Das Leben in vollen Zügen genießen, Folge 1

von Olker Maria Varnke

erschienen in Kommunikaze 15, November 2005

Der nächste und letzte Halt ist Münster in Westfalen Hauptbahnhof. Dieser Zug endet dort. Bitte alle Fahrgäste aussteigen.“ „Ach, hallo! ...“ sage ich zu dem bekannten Gesicht, das ich kurz vor dem Ausstieg in der Nähe der Zugtüre erblicke und das mich zuvor so freundlich angegrinst hatte. „… was machst du denn hier?“ – „Ich arbeite gerade in Münster in einer Bank, habe da schon meine Ausbildung gemacht […] und wohin willst du?“ Wir steigen aus dem Zug. Ich antworte: „Nach Bochum, mache da ein Praktikum, fängt heute an.“ – „Cool, und wie lange?“ – „Na ja, drei Monate sind’s schon.“ erkläre ich mit den Gedanken an dadurch nicht so wirklich vorhandene Semesterferien und die super Aussicht, an den Wochenenden Hausarbeiten schreiben zu müssen.

Wir gehen die Treppe des Bahnsteigs hinunter. Ich muss in die Regionalbahn nach Dortmund, Abfahrt 8.38 Uhr von Gleis 17. Er muss Richtung Innenstadt - zur Bank. Er fragt mich, ob ich mir für die lange Zeit in Bochum eine Wohnung genommen habe. „Nee, ist billiger mit der Bahn - ich pendle.“ Sein Blick zeigt die von mir erwartete Reaktion. Auch viele meiner Freunde begegneten mir mit Skepsis, wenn ich ihnen verriet, dass ich während meines Praktikums täglich zwischen Osnabrück und Bochum hin und her fahren wolle. Das sei doch viel zu stressig und so weiter. „Ja, aber wo es doch viel günstiger ist und ich gern in Osnabrück bei Kind und Kegel bin…“, entgegnete ich dann meistens. Sei’s drum; die Entscheidung steht ja nun fest. Nichtsdestotrotz bringt mich sein Gesichtsausdruck, nachdem wir uns verabschieden, erneut in nachdenkliche Stimmung: „Ist die Bahn tatsächlich so schlecht wie ihr Ruf? Werde ich täglich mit Verspätung in Bochum oder Osnabrück ankommen? Wäre es vielleicht doch besser gewesen, sich im Pott eine Wohnung zu nehmen?“

Da ich weiß, dass diese Fragen nur die Zukunft beantworten kann, blicke ich zuversichtlich in dieselbe und spute mich etwas, um die RB Richtung Dortmund, Abfahrt 8.38 Uhr von Gleis 17, zu erwischen. Schnell noch einmal die Anwesenheit der wichtigsten Reiseutensilien im Kopf überprüft: Das Portemonnaie, Geld und Ausweise sind in unserer Gesellschaft unersetzlich, ist im Rucksack,: alles  gerade im Zug noch gesehen und verstaut. Meinen Schlüsselbund habe ich eben auch noch gesehen. Schlüssel zu verlieren ist immer ausgesprochen ärgerlich, man kennt da ja die wildesten Geschichten. Mein Handy habe ich, Gott sei Dank, in der Hosentasche. Es ist heute besonders wichtig für mich.

Die Telefonnummer meines neuen Arbeitgebers ist eingespeichert - nur für den Fall der Fälle; sollte zum Beispiel die Bahn tatsächlich schon am ersten Tag so schlecht sein wie ihr Ruf, oder falls ich in Bochum nicht den rechten Weg… SCHEISSE!!! Das in meiner Hosentasche ist gar nicht mein Handy, sondern wie durch genauere Ertastung während meiner Gedankengänge festgestellt mein Schlüsselbund in Kombination mit einem Papiertaschentuch! „Verdammte Mistekacke“, und ähnlich schreckliche Schimpfworte rasen mir durch den Schädel, während ich wie wild meinen Rucksack durchsuche – Nichts!

„Verdammt! Arrrg… Schuld ist nur der scheiß Arschlochbekannte aus dem Zug! Ohne den hätte ich meinen Platz bestimmt noch mal kontrolliert und…“ Ich versuche mich zu beruhigen, stehe und denke über meine unfassbare Blödheit nach. Es ist der 25. Juli, der erste Tag meines Praktikums, ich steige zum ersten Mal in dieser Zeit von einem Zug in einen anderen. Ich werde noch drei Monate Zug fahren, genauer: 13 Wochen, oder aber auch 54,9 Tage. Noch besser: 219 Umstiege liegen vor mir. Ob das gut geht?  

Fortsetzung folgt!