Das Leben in vollen Zügen genießen, Folge 5

von Olker Maria Varnke

erschienen in Kommunikaze 20, August 2006

Ein Rückblick mit Wehmut


Was habe ich nicht alles erlebt: Mein dreimonatiges Praktikum im Ruhrgebiet führte mich durch Abgründe und Tiefen, zeigte mir Unbegreifliches und Unvergessliches. Und damit spiele ich nicht etwa auf Erlebnisse in meiner Bochumer Arbeitsstelle an, nein, wie der stetige Leser weiß, meine ich mein Pendlerdasein im unergründlichen Netz der Deutschen Bahn, das ich volle drei Monate erlebte. Nun ist es allerdings an der Zeit, Abschied von meiner Berichterstatung zu nehmen, kann ich doch den gierigen Kommunikaze - Ressortleiter Kochen & Backen Grundorf nicht länger abwehren, der bereits seit Monaten den Platz meiner Bahnserie begehrt, um endlich seine 472seitige Habilitationsschrift mit dem Titel „Frankfurter oder Wiener Wurst. Neue Studien zur kulinarischen Linguistik“ in den nächsten drei Ausgaben zur sicherlich großen Freude der Leser abdrucken zu können. Bevor aber „Das Leben in vollen Zügen genießen“ der Wissenschaft geopfert wird, soll es an dieser Stelle einen würdigen Abschied finden. Was kann sich da besser eignen als zwei weitere - für mich schon fast nostalgische – Momente des Pendelns zwischen Osnabrück und Bochum?

Es ist der 8. September 2005. Nach harter Arbeit und einigen Überstunden, die ich wegen vergessener Hausaufgaben aufgebrummt bekommen habe, erreiche ich erschöpft und abgehetzt den EC nach Osnabrück. Es ist heiß, und ich freue mich auf den klimatisierten Waggon, in dem ich mich hoffentlich gleich setzen und entspannen kann. Zunächst habe ich kein Glück, die drei Wagen, die ich anfangs durchschreite, sind voll besetzt. Erst im vierten finde ich ein Plätzchen, in das ich mich dann auch voller Genugtuung hineinkuschele. Nach wenigen Sekunden des wohlverdienten Dösens allerdings wird meine Aufmerksamkeit – so wie die aller anderen Insassen - auf ein beginnendes Telefonat gelenkt. Ungeachtet der relativen Stille im Waggon spricht ein etwa 28jähriger Brillenträger zwei Vierersitzgruppen schräg vor mir in einer Lautstärke, die einer transatlantischen Telefonverbindung des ausgehenden 19. Jahrhunderts angemessen wäre, in sein Handy. Neben diesem unorthodoxen Geräuschpegel zieht auch der Inhalt des Gespräches das unfreiwillige Publikum in seinen Bann. „Ich denke, dass das in den verschiedenen Landstrichen unterschiedlich gehandhabt wird. Mein Vater wurde zum Beispiel nicht aufgebahrt, mein Opa aber schon. Und ich weiß nicht – böse gesagt – ob von Andreas noch genug übrig ist, um ihn den Trauergästen zu zeigen.“ Ungläubig starre ich den jungen Menschen an. Nicht nur mich, auch zahlreiche weitere Fahrgäste lässt solche Pietätlosigkeit ob des Todes eines vermeintlich jungen Menschen – offensichtlich eines Freundes oder Verwandten des Telefonierenden – schaudern. „Naja, ich meine, wenn der da zehn Meter in eine Schlucht gestürzt ist, ja.“ klingt es weiter durch den EC und streut es weiter Salz in die offenen Wunden der Moralvorstellungen der Zuhörer. Hier vernehme ich die angewiderte Abkehr zum Waggonfenster, dort einen herunterklappenden Unterkiefer und da ein empörtes „Das ist jawohl nicht möglich!“. Das Gespräch endet mit genervtem Philosophieren über eventuelle Teilnahme der offensichtlich nicht gern gesehenen Verwandtschaft bei der bevorstehenden Trauerfeier. Der blonde Brillenträger in adretter Kleidung lehnt sich nun zurück und greift zur Financial Times. Seine verärgerte Miene und sein hastiges Hin- und- Hergeblätter lassen erahnen, dass er wohl den Ort eines angelesenen Artikels vergessen hat. Na so ein Ärger.

Nur einen Tag später habe ich das Vergnügen den einzigen freien Platz des Zuges neben einer etwa Vierzigjährigen einnehmen zu dürfen. Ich fühle mich ausgelaugt, war doch der hinter mir liegende Arbeitstag wie immer äußerst hart. Erneut wurde ich zu Überstunden gezwungen, obwohl ich heute meine Mathehausaufgaben dabei hatte. Das Letzte, an dem ich nun noch Interesse habe, ist Konversation mit fremden Menschen. Das nett gemeinte Kopfnicken meiner Sitznachbarin erwidere ich so auch nur mit einem aufgesetzten Grinsen, drehe mich schnell weg und tue so, als ob ich etwas Wichtiges in meiner Tasche suchen würde. „Hallo, kommen Sie aus Bochum?“, wirft sie mir dann doch trotz meines offensichtlich abweisenden Verhaltens frisch und freundlich herüber. „Nein, tue ich nicht und jetzt lass mich bloß in Ruhe!“ müsste  ich ehrlicherweise sagen. Stattdessen murmele ich, dass ich nicht aus Bochum stamme und nur vorübergehend zwischen dem Ruhrgebiet und Osnabrück wegen eines Praktikums pendele. „Ach, das ist ja interessant!“ mutmaßt sie, sieht mich mit großen, netten Augen an und fügt noch die Fragen hinzu, um was für ein Praktikum es sich den handle, und ob das tägliche Zug fahren nicht sehr stressig sei. Nach meinen ausgesprochen knapp ausfallenden Antworten stellt meine Nachbarin fest, dass die Menschen im Ruhrgebiet doch viel netter und offenherziger als jene in Osnabrück und Münster – wo sie inzwischen wohne – seien. In Dortmund zum Beispiel könne man gänzlich ungehemmt mit völlig fremden Menschen Gespräche führen. Sie fragt mich, wie ich das sehe. Nachdem ich ihr beiläufig nickend nicht nur in diesem Punkt zugestimmt habe, sondern auch darin, dass das offenherzigere Konversationsverhalten der Ruhrpotteinwohner doch viel netter sei als die sich eher stur vollziehende nordwestdeutsche Kommunikation, merke ich, dass das ein fataler Fehler war. „Aus diesem Gespräch kommst Du jetzt bis Münster nicht mehr heraus, Arnke, Du Vollidiot.“ Und so soll es denn auch geschehen: Etwa eine Stunde lang erzählt mir meine Nachbarin von ihrem vorbildlichen Mann, der Arzt bei den Behindertensportlern der Paralympics in Athen gewesen sei. Jetzt sei sie gerade auf dem Weg an die Ostseeküste, wo ihr Mann behinderte Segler verarzte. Ich bedanke mich artig für das nette Gespräch, wünsche ein schönes Leben und verlasse meinen Sitzplatz etwa 15 Minuten vor der planmäßigen Ankunft des Zuges in Münster.