Last Exit

von Stefan Berendes

erschienen in Kommunikaze 16, Dezember 2005

Er weiß nicht, wie es weitergehen soll. In jedweder Hinsicht. Vor ihnen der Stau: Blech anBlech, soweit das Auge reicht. Weiter vorne hat sich ein Tiertransporter quergestellt. Verängstigtes Schlachtvieh blökt durch die Nacht. Kein Durchkommen. Kein Weiterkommen. Sie sitzt auf dem Rücksitz und atmet in kurzen heftigen Zügen. Die Wehen kommen jetzt schnell hintereinander.
Er weiß nicht, wie es weitergehen soll. Das war alles eine saudumme Idee.
Die Blechkolonne schiebt sich ein wenig vorwärts. Eine Ausfahrt. Eine Raststätte. Mit quietschenden Reifen hält er auf dem Parkplatz. Auf dem Weg nach drinnen muss er sie stützen. Sie kann kaum noch gehen.
Drinnen grelles Neonlicht und bahnhofshallenartige Atmosphäre. Zigarettenrauch und gedämpftes Murmeln. Schnitzel mit Pommes sieben Euro fünfzig. Er hilft ihr, auf einer Plastikbank Platz zu nehmen. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn, ihre Atmung geht heftig. Es dauert nicht mehr lange.
Er muss jetzt für sie da sein. Er muss jetzt klar denken. Er braucht jetzt kaltes Wasser.

Sie hat noch nie in ihrem Leben solche Schmerzen gehabt. Es frisst sie auf. Noch zwei Wochen, hat die Ärztin ihr gesagt. Vermeiden Sie Stress und lange Autofahrten. Sie muss fast lachen, aber das würde jetzt zu sehr weh tun. Wo geht er hin? Er soll sie nicht alleine lassen. Nicht jetzt.

Er spritzt sich Wasser ins Gesicht. Das Licht auf der Toilette flackert. Am Spiegel fehlt die linke untere Ecke. Er sieht schlecht aus, Blässe, Augenringe, das ganze Programm. Er weiß nicht, wie es weitergehen soll.
Er ist nicht gut für sie. Das haben alle gesagt (auch ihre Eltern, vor allem ihre Eltern). Er hat sich nie darum gekümmert, aber an schlechten Tagen glaubt er manchmal selbst daran. An ganz schlechten weiß er, dass es die Wahrheit ist.
Er ist ein Taugenichts. Nichts gelernt, nichts geworden. Solange Du die Füße unter meinen Tisch stellst,...
Sie ist das einzige, was ihm wichtig ist. Wenn er mit ihr zusammen ist, fühlt er sich wie ein besserer Mensch. Wenn er mit ihr zusammen ist, möchte er ein besserer Mensch werden. Wenn es doch nur eine Lösung gäbe...
Ihre Eltern hätten eine Lösung gewusst. Eine Lösung, in der er nicht vorkam. Und das Baby...
Er denkt zurück an das Reihenhaus mit dem gepflegten Garten. An den frisch gemähten Rasen und die ordentlich geharkten Beete. Und an die gestärkten Rüschengardinen vor den Fenstern. Und an die Zimmer hinter den Fenstern, in denen es immer eiskalt war.
Sie mussten weg, sie mussten da raus. Flucht nach vorne. Bis zu diesem verdammten Stau. Er legt den Kopf an die kalte Fliesenwand. Nur kurz. Er muss zurück, er muss jetzt zu ihr.

Sie spürt, dass es anfängt. Um sie herum Menschen, aber sie ist ganz allein. Fernfahrer kommen herein und beschweren sich lautstark über den Stau. Am Nebentisch sitzen drei Männer. Sie tragen Sonnenbrillen, obwohl es schon Abend ist. Einer von ihnen ist schwarz. Er lacht. Die weißen Zähne blitzen wie Perlen in seinem dunklen Gesicht.
Der Schmerz kommt so heftig, dass er ihr den Atem nimmt. Sie versucht, alles so zu machen, wie sie es gelernt hat. Erinnert sich an absurde kleine Anweisungen, die mit der Wirklichkeit nicht das Geringste zu tun haben. Der Beckenboden ist das Wichtigste. Ruhig atmen. Ruhig und gleichmäßig.
Dann ist er wieder da. Gleich neben ihr. Hält ihre Hand. Er weiß nicht mehr weiter, sie sieht es in seinem Gesicht. Sie würde ihm jetzt gern sagen, dass es nicht schlimm ist. Aber sie hat gerade andere Probleme.

Er hält ihre Hand. Ihr Griff ist wie ein Schraubstock, aber sie ist so blass. Ihr Atem kommt jetzt stoßweise. Sie stirbt, oh mein Gott! Sie stirbt!
Um sie herum ist es jetzt völlig still. Selbst die Fernfahrer haben ihr lautstarkes Ramentern unterbrochen. Die Luft ist zum Schneiden dick, die Stimmung zum Zerreißen gespannt. Alles, was er hört, ist ihr keuchender Atmen und ihr Wimmern.
Hilf ihr, oh Gott, hilf ihr doch!

Sie weiß nicht, wie lange sie das noch aushalten kann. Alle starren sie an, aber das ist ihr egal. Der Schwarze lacht sein Perlenlachen. „Oh man, that is so far out!“  Sie kann nicht mehr, sie hält das nicht mehr aus, sie will einfach nur noch...

Ein Schrei.

Sie sehen sich an. Es ist vorbei. Die Fernfahrer applaudieren donnernd. Surreal, fast wie im Zirkus. Aber es ist in Ordnung. Es ist alles in Ordnung. Es ist ein Junge.
Es wird schon irgendwie weitergehen. Eine neue Stadt, ein neues Leben. Es muss weitergehen. Alles ist besser als der bodenlose Abgrund hinter den gestärkten Rüschengardinen.
Die drei Männer mit den Sonnenbrillen kommen näher. Einer öffnet seinen Aktenkoffer. Sie sehen weiße Pakete in Plastikfolie. Er wirft ihnen ein Bündel zu. Es ist Geld. Der schwarze grinst. „For the little one, you know?“ Dann gehen sie.

Weiter vorne steht der Viehtransporter endlich wieder gerade. Die Fernfahrer steigen wieder in ihre LKWs und jagen hinaus in die Nacht. Der Stau beginnt sich aufzulösen. Noch ein kurzes Blöken in der Dunkelheit, und alles ist vorbei.

Es ist Weihnachten.