erschienen in Kommunikaze 15, November 2005
Mit einem „schönen Tach auch“ verließ Frau Diegelmann den Fleischerladen. Seit dreißig Jahren kaufte sie hier schon ein und sie hatte dem Geschäft auch die Treue gehalten, nachdem der alte Fleischer das Geschäft an seinen Sohn übergeben hatte. Es sei zwar seitdem nicht mehr dasselbe, sagte Frau Diegelmann immer, aber man müsse der Jugend eine Chance geben. Heute hatte sie aber nicht wie üblich Sülze und Mettwurst für sich (Schinken konnte sie wegen ihrer dritten Zähne nicht mehr so gut kauen), sondern nur Geflügelpastete für ihre Katze gekauft. Der wollte sie heute noch mal etwas besonderes zu Fressen geben, denn ab morgen würde Frau Franke aus dem Nachbarhaus nur jeden Tag Trockenfutter in Minkis Napf füllen und das Katzenklo saubermachen. Minki würde zwei Wochen lang auf Frau Diegelmann verzichten müssen, denn Frau Diegelmann würde ihre erste Urlaubsreise antreten, seit ihr lieber Hermann vor drei Jahren von ihr gegangen war.
Als Frau Diegelmann abends im Bett lag freute sie sich schon sehr. Sie würde keine Busreise in den Bayerischen Wald oder eine Kreuzfahrt machen, wie andere Menschen in ihrem Alter. Sie würde zum ersten Mal nach England fahren. So oft hatte sie abends vor dem Fernseher gesessen oder in Romanen davon gelesen: Im Süden Englands wachsen des guten Klimas wegen Palmen. Aber man musste nicht damit rechnen, wegen schlechten Trinkwassers krank zu werden, wie Frau Diegelmann gehört hatte, dass es in Mittelmeerländern passieren konnte. Und immer wehte dort ein angenehmer Wind und die Bäderarchitektur musste einfach himmlisch sein. Viel würde sie ja nicht unternehmen wollen, denn sie war ja nicht mehr die jüngste. Nur im Garten sitzen, englische Kriminalromane (in Großdruck) lesen und einmal am Tag die Promenade entlang spazieren oder gar ein paar Schritte auf die Seebrücke hinauswagen. Mit wehendem Rock und den Hut auf ihrem Kopf festhaltend. So war sie ins Reisebüro gegangen und hatte nach einem gut geführten Haus mit Vollpension und Garten gefragt. Ob das denn mit der Sprache kein Problem sei, hatte die Frau im Reisebüro gefragt, denn in solchen Häusern spräche man üblicherweise kein Deutsch. Aber für Frau Diegelmann sollte dies kein Problem sein, denn Frau Diegelmann hatte in Kassel bei einem Bekleidungsunternehmen im Einkauf gearbeitet und für den Chef die Korrespondenz erledigt. Schriftwechsel und Telefonate auf Englisch gehörten da irgendwann dazu, so hatte Frau Diegelmann sich fortgebildet. Sie würde mit der netten Pensionswirtin schon das ein oder andere Schwätzchen halten können. Es hatte sich auch ein Haus ganz nach ihren Wünschen gefunden. Die Frau im Reisebüro lobte sie für die Wahl ihres Ferienortes, von dem Frau Diegelmann schon so viel gehört hatte und sagte ihr, dass es ein sehr traditionsreicher Ort sei.
Am nächsten Morgen holte sie ihr Schwiegersohn ab und brachte sie zum Flughafen. Sie flog zwar nicht zum ersten Mal, schließlich war sie mit Hermann schon nach Rom geflogen, aber sie war doch etwas nervös. Wenn sie erst mal in London im Zug saß, würde sie im Salonwagen einen Sherry trinken. Der Flug war dann gar nicht schlimm, denn das Wetter war gut, und das Flugzeug wackelte nicht. Neben ihr saß ein junger Mann, der geschäftlich nach London unterwegs war. Sie unterhielten sich etwas und sie erzählte ihm davon, dass sie in ein schönes Seebad in Cornwall unterwegs war, um ein paar ruhige Tage zu verbringen und die Landschaft aus den Filmen zu sehen, die sie sich sonntags abends im Fernsehen ansah. Er erzählte Ihr von seiner Frau und sie ihm von ihren Enkeln. Am Flughafen half er Frau Diegelmann mit ihrem Koffer und besorgte ihr ein Taxi zum Bahnhof. Es war sehr aufregend, die Paddington Station zu betreten, in die sie sonst nur Sherlock Holmes und Dr. Watson auf deren Jagd nach Professor Moriarty oder Miss Marple begleitete. Nur ging ihr Zug nicht um 16 Uhr 50, wie bei Miss Marple, sondern um 12. Irgendwie fand Frau Diegelmann es schade, dass heutzutage keine Dampfloks mehr fuhren und sie in einen etwas schmuddeligen Zug einsteigen musste, der von außen mit Farbe beschmiert war. Einen Salonwagen gab es auch nicht, also musste der Sherry warten, bis sie in ihrer Pension ankommen würde. Am Zielbahnhof sollte sie mit einem Wagen abgeholt werden, das hatte die Frau im Reisebüro arrangiert. Es war ein gutes Gefühl, als sie im Zug saß und wusste, dass sie sich ab jetzt um nichts mehr kümmern musste. Ihren Koffer hatte sie auf den Sitz neben sich gestellt, denn hier war kein freundlicher junger Mann, der ihr den Koffer ins Gepäcknetz hob und das war ihr eigentlich auch ganz lieb, denn man wusste nie ob wenn man ausstieg auch jemand da wäre, der ihn wieder herunterhob. Und der Koffer war schon etwas schwer, denn Frau Diegelmann hatte Bücher für zwei Wochen dabei, was keine unerhebliche Anzahl bedeutete.
Einige Leute im Wagon unterhielten sich, doch es fiel Frau Diegelmann schwer, etwas zu verstehen, denn die Menschen redeten alle sehr schnell und sprachen mit Akzent. Aber ihre Sicherheit kehrte zurück, als sie mit der Schaffnerin einige Worte über das Wetter wechselte. Und die Ansagen der Haltestellen wurden vom Tonband eingespielt und waren langsam aufgesprochen. Bestimmt von einer Schauspielerin, die eine gute Aussprache hatte und das war auch gut so, denn Frau Diegelmann durfte den Ausstieg nicht verpassen, denn es war nicht der letzte Halt des Zuges. Die Landschaft glitt vorbei und es wurde früher Abend. Frau Diegelmann wurde es nicht Leid aus dem Fenster zu blicken, doch heute würde sie nicht mehr an die Promenade oder gar auf die Seebrücke gehen, denn die Reise und die Aufragung hatten sie doch ermüdet und so war sie froh, als schließlich aus dem Lautsprecher die Frauenstimme erklang: „Ladies and gentlemen, the next Stop of the train will be Bath Main Station. In a few minutes we will arrive Bath.“.
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