erschienen in Kommunikaze 14, Juli 2005
Als Kind musste ich immer am Lakaientisch sitzen. Mit meinen schmierigen Fingern und dem rauen Kittelchen musste ich dort sitzen und die Reste essen. Mit den Fingern habe ich die staubig schmeckenden Fleischstückchen direkt aus der Pfanne, aus der dicken braunen Soße geangelt und mir in den Mund gesteckt. Finger abgeleckt und mit dem Handrücken die schwitzigen Strähnen aus der Stirn gewischt. Heiß! Heiß! Die Nase läuft. Hab’ ich mit dem Ärmel abgewischt und heimlich die zaddeligen Knorpelstücke in meinen Kragen gespuckt. Sonst wird alles wieder aufgewärmt in der braunen Soße. Schmutzig. Schmutzig, klebrig und versalzen. Das kleine braune Gesicht. Mit den feuchten Fingern helle Stellen reingewischt. Hhm. Lecker. Happa happa. Ein für Mama, ein für Papa. Messer, Schere, Gabel, Licht, sind für kleine Kinder nischt.
Wenn der Teller weggeräumt wird, schnappe ich nach der Hand. Mit meinen spitzen kleinen Zähnen. Sie packt mich fest im Nacken, wie ein Schraubstock. Ich winde mich und rolle mit den Augen. Mit dem Spüllappen wird mein Mund abgewischt. Pfui, der stinkt! Aber ich stinke auch! Der ganze Dreck. Der ganze Dreck, den ich gefressen hab’. Lieber Gott, bitte hilf mir. Er geht nicht mehr ab. Lieber Gott, bitte vergib, was ich verbrochen hab. Ich mach alles, was du willst und werde nie mehr lügen. Aber bitte nicht mehr der Lakaientisch! Der schmutzige lausige stinkende Tisch. Sonst renn ich weg. Sonst mach ich Schluss. Das Teppichmesser hab ich unter der Matratze versteckt. Der Plan ist lange ausgeheckt.
Oder ich verwandle mich in ein Tier. In eine schwarze Katze. Ich muss nur lange genug auf allen Vieren herumkriechen und maunzen und meinen Kot verscharren und Mäuse fangen auf den Bahnschienen und ihnen das Genick durchbeißen, dann werde ich eine.
Lieber Gott, wenn du mich rettest, dann gehe ich ins Kloster und diene dir für den Rest meines Lebens. Pflücke ich weiße Blumen für dich. Vergiss mich nur in diesem Elend nicht.
In der Schule weiß es ja keiner. Da sitze ich nur und gucke aus großen weißen Augen aus meinem schmutzigen Gesicht.
Ach, die Lehrerin ist schön. Sie ist sauber und riecht gut. Eigentlich bin ich ihr Kind, nur im Krankenhaus vertauscht worden. Die anderen Kinder und sie selbst wissen das nicht. Aber eines Tages, wenn es rauskommt, schließt sie mich in ihre Arme, ihr verlorenes Kind, und weint vor Freude und vor Rührung und küsst mein Gesicht. Und dann, dann schreib ich alles auf. Dann schreib ich ein Buch über das Leben, und wie gemein alle zu mir waren.
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