erschienen in Kommunikaze 12, Dezember 2004
Letztens fiel Ihm auf, dass Er sich seit fast zweitausend Jahren nicht mehr bei uns hatte blicken lassen. Das war Ihm dann doch etwas peinlich, und in einer schnell anberaumten Besprechung mit Gabriel versuchte Er, sich damit zu entschuldigen, dass Er ja damals mit Seinem Sohn einen ziemlichen PR-Treffer gelandet und sich deshalb eine kleine Pause verdient hatte. Gabriel hatte nicht die Position, seinem Chef hier zu widersprechen, auch wenn er anders darüber dachte. Die Vertretung seines Bosses auf Erden hatte sich in den letzten Jahrhunderten eindeutig zu viel herausgenommen, und es war tatsächlich schon lange Zeit gewesen, etwas gegen die gefährlichen Tendenzen wie Geldgier, Inquisition oder schwammig begründete Kreuzzüge zu unternehmen.
„Wenn ich Dir allerdings einen Tipp geben darf, Vater,...“, begann Gabriel.
„Nur zu, mein Sohn, Ich gebe zu, dass ich nicht mehr ganz auf dem Laufenden bin, was die Geschehnisse da unten angeht.“, sagte Er.
„Nun, ich möchte Dir empfehlen, Dich zunächst einmal getarnt unters Volk zu mischen und Deinen Schafen sozusagen aufs Maul zu schauen“, schlug Gabriel vor, „Du kennst ja die opportunistischen Männchen da unten: Wenn Du direkt mit himmlischen Heerscharen und diesen unsäglich kitschigen Chören anrückst, fallen gleich wieder alle auf die Knie und fangen an zu lobpreisen, obwohl sie seit Jahrzehnten keinen Gedanken mehr an Dich verschwendet haben. Und auch dieser Trick mit dem brennenden Dornbusch ist mittlerweile ziemlich abgegriffen. Der wird sogar schon in schlechten Hollywoodfilmen zitiert.“
„Was wird wo zitiert?“, fragte Er. „Tut mir leid, mein Sohn, ich komme da nicht mehr ganz mit. Aber egal: Ich werde deinen Rat beherzigen.“
Sekundenbruchteile später materialisierte sich direkt vor einer Vorstadtkneipe ein unauffälliger Mann im billigen Anzug. Er rückte sich den Schlips zurecht und ging hinein.
Die Kneipe war selbst für einen Samstagabend recht gut gefüllt. Fast alle Tische waren mit skatspielenden Männern und lachenden Frauengruppen besetzt. Das Durchschnittsalter war definitiv jenseits der dreißig anzusiedeln. Ein paar Blicke wanderten zur Tür, als Er eintrat. Seine Tarnung war aber so gut gewählt, dass die Leute ihn bereits nach wenigen Sekunden wieder vergessen hatten. Er setzte sich an die Theke und bestellte „einen Kelch von eurem besten Ale, guter Mann!“, was dem Wirt zwar ein Stirnrunzeln entlockte, aber dann wohl als Gag interpretiert wurde. Zwei Minuten später stand ein frisch gezapftes Pils vor Ihm, und Er konnte sich voll und ganz auf die Gespräche in seiner näheren Umgebung konzentrieren. Ein korpulenter Mann mit einer fast hypnotisch wirkenden pulsierenden Ader auf der Stirn beschwerte sich gerade über „die Jugend von heute“. Einges ändert sich nie, dachte Er mit einem Schmunzeln. Das Gespräch erinnerte Ihn daran, dass auch Er damals heiße Diskussionen mit Seinem Sohn hatte durchstehen müssen. Der wollte das ganze, seit Jahrtausenden bewährte Geschäftsprinzip umwerfen. Aus „Auge um Auge“ wollt er „Wenn man dich auf die linke Wange schlägt, so halte auch die rechte hin“ machen. Und man kann schließlich diskutieren wie man will, am Ende setzt sich die jüngere Generation durch. Seitdem lief das Geschäft nur noch in der zweiten Zeile auf seinen Namen. Sein Sohn dagegen wurde als „Erlöser“ betitelt und von vielen als Idol angesehen. Ihm war das ganz recht. Die Zeiten änderten sich eben. Obwohl die Zeit noch nie etwas gewesen war, über das Er sich große Gedanken gemacht hätte. Wenn man in Jahrmilliarden denkt wie Er es tat, ist das auch nicht weiter verwunderlich.
Der korpulente Herr fing an, lauter zu sprechen und dabei einen leichten Nieselregen an Spucke zu fabrizieren. Sein Gesprächspartner nahm das alles seltsam apathisch hin. Die Wirkung von Alkohol hat sich also in den letzten zweitausend Jahren nicht geändert, dachte Er.
„Die haben mir die ganze frischgestrichene Wand mit diesen elenden Grafittis vollgesaut! Von links nach rechts die ganze Häuserfront entlang. Die Studenten aus dem zweiten Stock stecken bestimmt dahinter. Die sind mir schon seit zwei Jahren ein Dorn im Auge. Die stellen immer ihre Fahrräder falsch ab und feiern andauernd ihre Feten. Ein Krach! Fürchterlich!“
Er fing an, Sich zu langweilen und konzentrierte sich deshalb auf diese interessante Technologie, die dort über dem Tresen hing: Ein viereckiger Kasten fabrizierte Bilder. Da Er eine im wörtlichen Sinne übernatürliche Auffassungsgabe besaß (das Allsehende Auge schaltete Er regelmäßig ab - wer will schon den ganzen Tag lang Beschwerden hören?), begriff Er bereits nach wenigen Sekundenbruchteilen, worum es in diesem sogenannten „Fernsehbeitrag“ ging: Zwei Männer fingen einen Krieg an und beriefen sich in ihren Begründungen beide auf Ihn. Dies erzürnte Ihn, obwohl Ihm diese Argumentationsweise mittlerweile ziemlich bekannt war. Für einen kurzen Moment dachte Er wehmütig an die guten alten Plagen zurück. Eigentlich ein unabdingbares Mittel, um in Seinem Business einen Standpunkt wirksam zu unterstreichen. Allerdings waren diese - zugegebenermaßen etwas archaischen - Methoden auch den Streichungen Seines Sohnes unterworfen gewesen. Eigentlich war das auch ganz gut so.
Er unterdrückte seine Phantasien von einer eindrucksvollen Richtigstellung der Aussagen dieser Kriegsherren und beschloss, Sich eines dieser mit Schriftzeichen und farbigen Bildern vollgestopften, schmalen Bücher vorzunehmen, die in einem Ständer in der Ecke aufgereiht waren.
Als Er sie (auf menschlich langsame Art) durchblätterte, versuchte Er, die wichtigsten Stichpunkte und Themen unter einer Überschrift zusammenzufassen. Am ehesten, fand Er, konnte man hier das Wort „Fassade“ verwenden. Im Kern ging es nämlich um pure Oberflächlichkeit: Diäten, Muskeltraining und Musik. Obwohl „Musik“ eigentlich falsch ausgedrückt war. In einem Text über einen Musiker ging es um so ziemlich alles - außer Musik. Die neue Frisur des jungen Mannes wurde genauso unter die Lupe genommen, wie seine neue Wohnung, seine Freundin und seine Kleidung.
Als Er zurückdachte, stellte Er fest, dass sich seit zweitausend Jahren überhaupt nichts verändert hatte, was Ihn wirklich frustrierte. Er hatte Sich damals wirklich Mühe gegeben - so eine Schöpfung ist schließlich kein Kinderspiel! Und was machten diese undankbaren Menschen daraus? Nichts! Überhaupt nichts! Jeder von ihnen wandelte durch die Welt, als ob sie seine eigene wäre. Wieder keimten unterhaltsame Bilder von Plagen und Sintfluten in Seinem Geist auf, und Er war kurz davor, einfach mal wieder einen der größeren Kometen in Richtung Erde zu lenken. Doch dann sanken die Schultern des unauffälligen Mannes zusammen, Er erhob Sich, ging zum Wirt und sagte: „Es bringt ja eh nichts. Ich schau in zweitausend Jahren mal wieder rein. Vielleicht habt ihr es dann ja auf die Reihe gekriegt.“
Er zahlte sein Bier und verschwand durch die Tür, vor der Er Sich in Luft auflöste.
In der Kneipe schaute der Wirt verwirrt seinen Stammgast-Alkoholiker an und fragte: „Wer war der Typ?“
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