Von Tropfen und Menschen

von Michael Weiner

erschienen in Kommunikaze 4, Mai 2003

Die Sonne zieht sie an. Vom Meer, aus Flüssen, von Wiesen und Wäldern sind sie aufgestiegen um sich dem Wind anzuvertrauen. Zuerst sind sie kaum sichtbar, doch dann werden sie immer mehr. Hoch und schwarz türmen sie sich auf, bedecken den ganzen Himmel.

Manchmal fallen sie sanft, spülen den Staub von den Dächern, klopfen auf Autodächer und tränken die Frühlingserde. Manchmal halten sie die Stadt in ihrem kalten Griff gefangen. Langsam ziehen dann die Schwaden durch die Straßen, und man sieht kaum die andere Straßenseite, wenn man aus dem Fenster blickt. Es gibt aber auch Tage, da peitscht sie der Sturm durch die Bäume, über die Plätze und lässt sie gegen Fensterscheiben trommeln.
An einem solchen Abend war ich unterwegs. Noch strahlte die Abendsonne von einem wolkenarmen Himmel und tauchte die Häuser in ein ruhiges Licht. Die Wände waren noch warm, wenn ich sie mit der Hand berührte.

Wie immer ging ich an dem kleinen Bach entlang, der, von einigen hohen Bäumen beschattet, an der Straße entlang floss. An einer Bank blieb ich stehen um mir eine Zigarette anzuzünden und dem Bach beim Fließen zuzusehen. Als ich saß, hörte ich es hinter mir rascheln, und aus dem Gebüsch kam ein junger aber schon ziemlich großer Hund auf mich zu. Sein Fell war dicht und lang. Braun war es, mit weißen und schwarzen Flecken. Ich blickte den Weg entlang und entdeckte die Person, zu der er gehören musste. Sie war nicht weit entfernt und hatte eine Leine in der Hand, was ich beruhigend fand, denn bei Hunden weiß man ja schließlich nie, ob sie „nur spielen“ wollen oder ob sie nicht vielleicht etwas ganz anderes im Schilde führen. Dieser hier wollte nicht spielen. Es genügte ihm für den Moment, sich vor mir hinzusetzen und sich gegen meine Beine zu lehnen. Er war recht schwer, und ich muss einen etwas verkrampften Eindruck gemacht haben, als seine Besitzerin herankam. Sie war einen Kopf kleiner als ich, trug ihre Haare weder kurz noch lang. Auf ihren Wangen waren leichte Andeutungen von Sommersprossen zu sehen, und ihre Augen funkelten mich lustig an. Sie bat mich um eine Zigarette, und als sie sich zu mir gesetzt hatte, stellte sie mir ihren Begleiter vor. Er hieß Ben, war erst wenige Monate alt, und nach ihrer Aussage schätzte er mich sehr. Er lag jetzt ausgestreckt vor ihr, mit dem Kopf allerdings auf meinen Füßen.

Wir unterhielten uns nicht und schauten beide etwas verlegen in den Himmel, wo die Sonne rasch hinter dunklen Wolken zu verschwinden begann. Die vereinzelten Autos, die vorüberfuhren, hatten das Licht eingeschaltet, und in den Zimmern wurden die Lampen angeknipst. Ein Wind hatte sich erhoben, der garantiert immer von hinten das T-Shirt hochfährt und einen kalten Schauer hinterlässt.

Beim ersten Donnergrollen hob Ben den Kopf, ließ ihn aber samt der Schlappohren auf meine Füße sinken und begann, auf dem Saum meines linken Hosenbeins zu kauen. Dann fielen erst wenige, binnen Sekunden immer mehr Tropfen. Der Wind war zum Sturm geworden und Peitschte den Regen in unsere Gesichter. Es blitzte und lange rollte der Donner durch die Straßen. Ben hatte sich aufgesetzt um sich hinterm Ohr zu kratzen. Wasser troff von seiner Schnauze auf meine Oberschenkel. Ich kraulte ich ihn hinter den Ohren, denn ich hatte Angst vor Gewitter und wusste nicht, wohin mit meinen Händen.

So schnell, wie der Spuk gekommen war, war er auch wieder abgezogen. Die Tropfen, die jetzt noch fielen, kamen von den Bäumen, die Abenddämmerung zeigte einen aufgeräumten Himmel, und im Osten hörte man noch leises Grummeln und sah Wetterleuchten. „Wir sind wie die Regentropfen.“, sagte sie in die Stille der Hintergrundgeräusche hinein. „Wir steigen in die Höhe, werden hierhin oder dorthin getragen und fallen wieder herunter. Mal sanft, mal mit Wucht, mal ziehen wir durch die Straßen und bleiben irgendwo hängen. Wir wissen nicht, wann und wohin wir gelangen, denn es liegt nicht an uns. Wir Menschen sind wie Regentropfen.“

Dann sah sie mich an, wischte mir einen Tropfen von der Nase, stand auf und ging. Ben trottete neben ihr her; ich habe die beiden nie wiedergesehen. Aber als ich zu Hause war (nicht ohne auf dem Heimweg ein oder zwei Mal über ein zerkautes Hosenbein gestolpert zu sein) wusste ich, dass ich mir mal einen Hund anschaffen würde...