erschienen in Kommunikaze 1, Januar 2003
Sie saßen auf der Burgmauer und ließen ihre Beine baumeln. Unter ihnen lag ihre kleine Stadt in der Abenddämmerung. Es schien, als ob sich die Dunkelheit hier oben schneller über die Beiden gesenkt hätte und noch nicht bei den Häusern unten im Tal angelangt war.
Schweigend zogen sie an ihren Zigaretten, während die Nacht über sie hinabfloss.
Tatsächlich streichelte sie erst Momente später über mit langen Händen über die Straßen und Dächer der Stadt, bevor sie lautlos und endgültig hereinbrach. Bald hatte sie alle Fenster mit ihrem Körper geflutet. Es gingen die ersten Lichter an, um sie aus den Wohnzimmern wieder hinauszuspülen. Die Freunde jedoch waren froh, an ihrem gemeinsamen Platz ganz und gar von ihr umschlossen zu sein. Besonders einer der beiden, denn er stand unter Tränen.
Es war der schützende Mantel der Nacht, der ihn das aussprechen ließ, wofür er sonst lange Zeit gebraucht hätte, um es zu formulieren: „Seit ich wieder hier bin, kann ich an nichts mehr glauben. Es ist, als sei alles, was ich früher getan und gedacht habe, wertlos und unnütz. Ich habe meine Wahrheit verloren und weiß nicht, ob es sie überhaupt jemals gegeben hat.“ Er blickte geradeaus, dorthin, wo bei Tageslicht der Horizont zu sehen war. Durch seine traurigen Augen sah es so aus, als wären der Himmel mit all seinen Sternen und die Stadt mit ihren ebenso vielen kleinen Lichtpunkten eins geworden. Er wischte sich über die Augen, doch der Eindruck blieb.
„Du kommst von einer langen Reise. Sie hat dich verändert, und jetzt hast du Angst“, sagte der andere und blickte auf seinen Freund. „Aber mit dem Reisen ist es wie mit allem, was du tust. Es ist, als würdest du bereits ein Leben lang einen Stein besitzen. Irgendwann hast du in deine Tasche gegriffen und ihn bemerkt. Du weißt nicht, wo du ihn herhast, er war einfach schon immer dort. Zuerst hast du ihn nur befühlt. Bist über jede Rundung gefahren, bis du seine Form fast auswendig kanntest. Irgendwann hast du ihn herausgenommen und ihn dir angeschaut. Du hast darüber nachgedacht, wie sich der Stein in bestimmten Situationen wohl verhalten würde. Zum Beispiel, wenn du ihn übers Wasser gleiten lässt. Oder gegen eine Mauer wirfst. Wie er in der Luft liegen würde, und wie es wäre, ihn über andere Steine klackern zu lassen.“ Er schaute wieder zu seinem Freund, der immer noch den schwarzen Himmel vor ihren Augen beobachtete und sich leicht zurücklehnte, um an die Zigarettenschachtel in seiner Jackentasche zu kommen.
„Ja, aber was hat das alles mit dem Reisen zu tun?“ Auch er wendete nun seinen Kopf, und zum ersten Mal an diesem Abend trafen sich ihre Blicke. „Nichts! Alles, was ich bisher erzählt habe, ist dort unten passiert“, der andere deutete in die Stadt hinunter. „Ich war dabei. Auch ich habe meinen Stein dort zum ersten Mal erprobt. Zusammen haben wir unsere Steine von einer Hand in die andere oder auch einmal in Pfützen geschmissen. Sogar anderen Menschen haben wir sie zugeworfen. Manchmal kamen sie zurück. Manchmal mussten wir sie uns wiederholen.“ Auch er zündete sich jetzt eine weitere Zigarette an und blies den Rauch in die Luft.
Gemeinsam schauten sie über ihre Füße hinab ins Tal. „Die Stadt sieht bei Nacht genauso aus wie der Himmel“, erwiderte der Gereiste. „Ich weiß, was Du meinst, aber es ist, als wäre ich nie mit dir dort gewesen.“ „Das ist die Schramme“, erwiderte der andere. Überrascht blickte sein Freund wieder zu ihm. „Ja, denn es kam der Moment, da wolltest du es richtig wissen. Es musste getan werden. Du standest da, hast deinen Stein fest umschlossen und hast ihn schließlich hoch in die Luft über dein Haus geschleudert. Und dann bist du losgerannt, immer hinter deinem Stein her, und hast ihn beobachtet. Wie schön er sich in der Höhe drehte und wie gut er in der Luft lag. Ein regelrechter Flugstein. Dieser Stein ist zum Fliegen gemacht, dachtest du.
Als du ihn vom Boden aufgehoben hast, hatte er allerdings eine kleine Schramme.“ Der Freund schaute ihn immer noch an. „Und während du jetzt wieder im Haus bist und in der Küche sitzt, reibst du die ganze Zeit über die Schramme. Der Stein ist nicht mehr so glatt wie vorher. Nicht schöner, aber auch nicht hässlicher. Es ist derselbe Stein wie zuvor, bloß mit einer Schramme. Und als du da in der Küche sitzt hältst du auf einmal mehr als nur einen Stein in Händen. Irgendwie komisch, dass du ihn erst losschleudern musstest, um das zu wissen. Jedenfalls hast du gelernt, dass der Stein auch in den Dreck fallen kann. Mann muss ihn aufheben, den Staub abwischen und die Splitter, die er beim Aufprall erlitten hat, verschmerzen. Denn ihn auf ein Kissen in den Schrank zu legen, wäre langweilig, nicht wahr? Du weißt es, und dafür schätze ich dich sehr“.
Die Tränen des Freundes waren getrocknet und in seinem Gesicht zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab, als er zum letzten Mal hinabblickte. In dem Meer aus Laternensternen fand er den, der sein Haus erhellte, und fühlte sich besser. „An welche Wahrheit glaubst Du nun?“, fragte er. Und nachdem sie noch eine Weile in dieser Nacht gesessen hatten, antwortete sein Freund: „Heute glaube ich an deine.“
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