erschienen in Kommunikaze 19, Juni 2006
Städtisches Theater Pirna, ein Donnerstag Abend, gegeben wird „Der Lügner“, ein einfaches Lustspiel in drei Akten, gerade recht für ein Theater in der Provinz, könnte man meinen - weit gefehlt. Henri, ein Freund, hat mich hierher gezogen, Obgleich ich Theatervorstellungen eher fürchte, liegt im heutigen Theater doch nur mehr ein schmaler Grat zwischen der traditionellen Darstellung durch Sprache und Ausdruck und der völligen Verwüstung des Bühnenraums durch die Darsteller. Nackte Schauspieler, die unter wildem Getöse das Bühnenmobiliar begatten oder gleich die halbe Requisite in Schutt und Asche legen, gehören seit dem Ende des 20.Jahrhunderts zum guten Ton einer jeden anspruchsvollen Inszenierung. Bei dieser Vorstellung wird es mir selbst in Pirna mulmig, und auch auf meinem Platz im linken Oberrang fühle ich mich nicht sicher. Bin es doch wahrscheinlich wieder ich, der am Ende des dritten Akts vom darstellenden Ensemble nach vorne gezogen wird, um bis aufs Letzte entblößt in der großen Schlussszene auf die Bühne ejakulieren zu müssen. Henri weiß mich zu beruhigen: „Das ist hier Pirna und nicht Bochum, Berlin oder Hamburg.“ Und der erste Akt verläuft dann auch eher entspannt. Der Protagonist Lelio lügt, dass sich die Balken biegen, gibt sich in Venedig als neapolitanischer Cavaliere aus und macht Signora Rosaura den Hof, dieweil im Hintergrund die lustigen Musikanten mit Harfe und Leier recht artig eine bunte Melodei bereiten. Die wunderschöne Rosaura zeigt sich zutiefst beglückt über ein vermeintliches Geschenk des attraktiven Hauptdarstellers, sein Diener Arlecchino schüttelt den Kopf ob solch ausgewachsener Dreistigkeit. Wir sind amüsiert, Pirna ist bestens unterhalten Es scheint, als habe sich die Regie für die klassische Variante entschieden: Die Schauspieler bleiben zunächst auf der Bühne und wir in den Sitzreihen.
Nach der ersten Pause wirkt zunächst alles wie gewohnt, wobei ich auf meinem Platz im Oberrang überrascht feststellen muss, dass ich bei der Lektüre die Szene, in der Lelio zugekokst die Signora Rosaura rittlings besteigt, wohl überblättert haben muss. Und wohl auch die Regieanweisung, dass Rosaura über das farbenfrohe und blumige Bühnembild eines italienischen Frühlings mit ihrem Blut große Hakenkreuze schmieren soll, während nunmehr die lustigen Musikanten Harfe und Leier ins Parkett schleudern und das Publikum als „dreckige Huren“ beschimpfen. „Ganz nett, n’est-ce pas?!“, begrüßt Henri neben mir etwas schüchtern den Stimmungswechsel auf der Bühne. Den gröbsten Schnitt erfährt die Inszenierung, als plötzlich Ottavio, ein Cavaliere aus Padua, mit einer Ballwurfmaschine Schweinenieren auf unseren munteren Protagonisten schießt, der dieweil auf einer Ottomane im vorderen Bühnenbereich mit Rosauras Schwester Beatrice einer Sexualpraktik frönt, für die es einer Leiter und einer Kabeltrommel bedarf. Unklar bleibt auch, was dem sympathischen Kutscher, dem kecken Laufburschen und dem fröhlichen Briefträger in der Pause widerfahren ist. Sie tragen nun SS-Uniformen und werfen aus dem Hintergrund das französische Bühnenmobiliar in die Zuschauerränge. „Eine interessante Interpretation, nicht?“, stellt mein Nachbar etwas verkrampft fest. Ein Teil des Ensembles stimmt Brechts Ballade vom toten Soldaten an, „Kein Frauenzimmer bleibt hier ungefickt!“, grölt Lelio von den Brettern, ein Kirschbaum-Ecktisch trifft mich am Kopf. Soviel grob zum zweiten Akt, den dritten verfolge ich von meinem Platz aus dann in halb geduckter Position, während Henri meine Platzwunde mit einer der Schweinenieren zu kühlen versucht. Das Geschehen wird zunehmend undurchsichtiger. Ein wenig aus der Handlung bringt mich der übergroße Ventilator, der zu Beginn des dritten Aktes auf die Bühne gefahren wird und wie täuschend echt Florindo dabei seine rechtes Bein verliert. Moment…! Nun, egal, Ich lasse mir meine Unsicherheit nicht anmerken. Habe ich auch den Bezug zur Handlung verloren, stelle ich doch immerhin fest, dass zumindest das Personal der Komödie, mal abgesehen von den etwa 50 riesigen Plüschhasen, die gegen Ende des zweiten Aktes mit schwerer Baugerätschaft die Völkerschlacht bei Leipzig nachstellten, mit dem der Originalfassung übereinstimmt. Thema des 3. Akts ist dann wohl irgendwie Hölle, Endzeitstimmung oder Ähnliches. Das Bühnenlicht ist auf ein Minimum reduziert, große schwarze Vorhänge bilden die Kulisse für das Finale dieser munteren und bunten Inszenierung an einem Donnerstagabend in Pirna. Die Zuschauer sind mittlerweile völlig in den Bann der Aufführung gezogen, aus dem Orchestergraben dröhnt dunkel und eindringlich ein schweres Mahler-Requiem. Die Blutung an meiner Stirn hat ein wenig nachgelassen, die Schmerzen auch, neben mir hat Henri seinen Hals vorsichtig nach vorne gereckt und verfolgt, wie Dottore Balanzoni, der Vater der beiden Signoras, nun lautstark den Kopf des Protagonisten fordert. Ein Raunen geht durch den Theatersaal. „Dann man zu“, sage ich mittlerweile gleichgültig zu Henri, „Solange sie mir den nicht auch noch an die Birne werfen.“ Aus seiner verkrampften Reaktion schließe ich, dass in diesem Augenblick irgendetwas Beunruhigendes auf der Bühne vor sich geht. Der Lügner aus Neapel kniet dort in Ketten gelegt und bettelt völlig ausgebrannt um Hilfe. Die Schwestern tragen Kanister, es riecht nach Benzin. Dann hört das Orchester auf zu spielen, es wird still und Lelio ruft müde einen letzten Vers von der Bühne:
„Holt mir doch ihr guten Geister,
holt meinen Retter mir herbei.
Er sitzt im linken Oberrang,
in Reihe 8, Platz 103!“
Das grelle Licht des Scheinwerfers blendet mich zunächst ein wenig, aus dem Orchestergraben glaube ich die JEOPARDY-Titelmelodie ertönen zu hören. „Puh!, schon so spät! Du ich muss dann los, ne. Mach’s gut!“, höre ich Henri neben mir noch sagen, ehe er seine Mantel greift und sich eilends davon macht. Ich brauche einen Augenblick, ehe mir meine Lage bewusst wird. Als von beiden Seiten schon zwei aufgebrachte gute Geister eifrig die Reihe durchkämmen, unternehme ich noch einen letzten Fluchtversuch, jedoch bleibt mir der Ausgang durch die Reste der Völkerschlacht ( 2 x Hase, 1x Mischmaschine) versperrt. Mit dem Rücken zur Wand ergebe ich mich. Auf der Bühne angekommen fesselt man mich an ein Kreuz und stellt es im zentralen Bühnenbereich auf. Ich überlege noch, wo Jesus in der Textvorlage auftauchte und registriere dann die angenehm hohe Watt-Zahl der Bühnenscheinwerfer, die den Wärmeverlust durch die mir entrissene Bekleidung halbwegs kompensiert. Diese wird im Übrigen gerade - Richtig! – von Beatrice in die Zuschauerränge geworfen. Zum großen Finale soll ich nun vom Kreuz aus den brennenden Lelio auspinkeln. Nachdem die Signoras ihn entzündet haben, stürzt dieser dann allerdings unverrichteter Dinge in den Orchestergraben, da ich vor den 375 Augenpaaren im ausverkauften Stadttheater Pirna keinen Tropfen herausbringe. (Lelio ab!) Dottore Balanzoni schaut mich einen Augenblick lang vorwurfsvoll an, das restliche Ensemble agiert ein wenig ratlos. Ottavio kann die Szenerie kurzzeitig retten, als er mit großem Improvisationstalent und Ballwurfmaschine spontane Salutschüsse ins Theaterdach setzt. Aus dem Orchestergraben kriechen derweil keuchend Trompeter und Geiger, die hochschlagenden Flammen behindern ein wenig die freie Sicht auf das Bühnengeschehen, wo Ottavio früh die Schweinenieren ausgehen, und die Musikanten in das Schlusslied einstimmen. Ich beobachte, wie das Feuer die ersten Ränge im Parkett erreicht, und nehme an, dass der starke Wind in meinem Rücken möglicherweise durch den großen Ventilator verursacht wird, der wieder auf der Bühne Position bezogen hat. Bevor dieser sich und auch den Rest des Ensembles im Orchestergraben versenkt, hat mich zum Glück Arlecchino vom Kreuz befreit und mit mir die Flucht angetreten.
Draußen auf dem Theatervorplatz hat die Feuerwehr die ersten Schritte bereits eingeleitet. Von Henri fehlt jede Spur. Arlecchino schüttelt den Kopf ob solch ausgewachsener Dreistigkeit. Ein alles in allem belangloser Theaterabend in Pirna geht zu Ende.