Projekt Berlin 2003 Folge 6

von Darren Grundorf

erschienen in Kommunikaze 8, Dezember 2003

An der Verpflegungsstation bei Km 25 gibt es keine Äpfel und Bananen mehr, wir kommen zu spät. Macht ja nichts. Nicht dass ich Hunger hätte! Ich falle fast
um vor Schwäche! Auf den kommenden fünf Kilometern denke ich zunächst nur alle zehn Sekunden an das Aufgeben, dann alle fünf.

Bis km 30 ist es grausam. Daniela läuft schon 50 Meter voraus, und weder sie noch ich nehmen die Zuschauer am Straßenrand noch wahr. Dann gibt es endlich wieder etwas zu essen, und Daniela stopft sich für mich die Hosentaschen mit Äpfeln und Bananen voll. Vielleicht habe ich doch noch eine Chance, sie später mit einer Blutgrätsche von der Bahn zu holen und eher durch das Ziel zu laufen. Bis km 34 sind wir ganz allein mit uns beschäftigt. Die Beine schmerzen, aber laufen wie von selbst, im Kopf dieselben Gedankenabläufe: Scheiß Tag  - Ich kann nicht mehr - Aufgeben - Scheiß Tag...

Dann habe ich einen Krampf, und ein Herr vom Roten Kreuz bietet mir an, mich im Zelt zu massieren. Klasse Idee. Endlich liegen, und Wasser haben sie auch da. Daniela ist längst in unerreichbarer Ferne, und ich mache mich alleine auf die letzten Kilometer. Nicht ganz alleine. Um mich herum laufen noch die anderen Gestalten, und wenn ich mich umdrehe, sind da noch genug, die hinter mir sich dem Ende entegegen bewegen. Und dann erst die ganzen Leute, die am Straßenrand behandelt werden oder versterben oder so.

Jetzt sind es nur noch fünf Kilometer, aber jeder einzelne kommt einem wie eine Ewigkeit vor. Bleibt noch ein wenig Zeit, um über den Tod nachzudenken. Am Potsdamer Platz laufe ich dann durch eine endlose Straße, an der links und rechts große Glaskästen in den Himmel ragen. Keine Zuschauer, kein Sonnenlicht. Nur noch ein Haufen von Menschen in Shirt und Turnhose, die stehen, gehen, humpeln und stolpern oder mit gesenktem Haupt auf dem Asphalt sitzen. Das muss die Straße zum Scheiterhaufen sein.

Irgendwann erkenne ich das 41 km-Schild. Ich weiß nicht, wo Daniela ist, weiß nicht wie lange ich jetzt unterwegs bin, habe mich aber an die Schmerzen in den Beinen gewöhnt. Hunger habe ich schon lange nicht mehr, vielmehr ist mir schlecht von den ganzen Bananen. Endlich sehe ich das Brandenburger Tor und weiß: 195 Meter dahinter ist das Ziel. Auf der Anzeige über der Ziellinie steht was von 5:17 Stunden, was am Ende Platz 29.327 bedeuten soll.

Ich fühle mich, als wäre ich gerade einem Flugzeugabsturz entkommen und suche nun nach meiner Reisebegleiterin, die mir dann von der Seite in die Arme fällt. Seit sieben Minuten hat sie auf mich gewartet und außerdem einen sagenhaften 28.897. Platz belegt. Das muss natürlich gefeiert werden, aber bestimmt nicht heute. Noch hinter der Ziellinie brechen Menschen in das Gebüsch oder zusammen oder müssen behandelt werden.

Wir müssen fort von diesem Ort. Nur noch weg. Nur noch nach hause und einfach nur noch sein. Unser Abreiseplan erfährt natürlich eine kleine Änderung. Die Deutsche Bahn fährt ohne uns nach Osnabrück, und wir bleiben noch eine Nacht bei unserem Fan.