BdK Folge V: Erstsemestertutorium

von Stefan Berendes

erschienen in Kommunikaze 7, November 2003

Wieder ist es Oktober, und das Spiel beginnt von Neuem; Freilich mit leicht veränderten Spielregeln, denn wo wir uns vor relativ kurzer Zeit selbst der großen bösen Welt der Eigenverantwortung schutzlos ausgesetzt sahen, wo wir nichts begriffen, und unserer flehentlichen Suche nach Erleuchtung ebenso oft mit Häme begegnet wurde wie mit Mitleid, da umgibt uns nunmehr der Mantel der Abgeklärtheit, der Professionalität, ja geradezu der Allwissenheit.

Wir stehen hier auf dem Podium und sehen in die Schar von Erstsemestergesichtern, deren Ausdrücke das gesamte Spektrum von Vorfreude bis hin zu hilfloser Verzweiflung widerspiegelt, und fühlen uns wie Götter: Die mächtigen Dritt- Fünft- oder Was-auch-immer-Semester, die die Klippen des Studienbeginns sicher umschifft haben, und denen nun keiner mehr was vormachen kann. Und wie Götter lassen wir uns auch verehren, während der Erstsemestertutorien. Denn wo wir noch zu Studienbeginn einer schutzlosen Herde von Wiederkäuern glichen, die auf den Abtransport zur Schlachtbank warteten, wo kleinste Unsicherheiten uns völlig aus dem Gleichgewicht warfen, da bringt uns nun auch das größte Chaos nicht mehr aus der Ruhe. Wir lachen auch den größten Unbilden des deutschen Universitätsbetriebs tollkühn ins Gesicht und amüsieren uns über die Schockiertheit unserer Schutzbefohlenen, geleiten sie durch unser Revier, führen stolz die besten Kneipen, die besten Seminare, ja gar die besten Gerichte in der Mensa vor, und sicherlich ist auch ein bisschen Altruismus dabei, aber wenn wir einmal ganz ehrlich sind, vor uns selbst und vor der Welt: Wann sonst wird man so allumfassend nach seiner geschätzten Meinung gefragt? Wann sonst darf man so ungestraft den Leitwolf spielen, seine Ansichten über Gott und die Welt an ein so fasziniertes Publikum verscheuern, sich – kurz gesagt – so unumwunden wichtig fühlen wie in der Einführungswoche?

Obwohl uns nur ein oder zwei – sicherlich nicht gerade mörderisch arbeits- und erkenntnisreiche – Jahre von den Erstsemestern trennen, steht als Minimalkonsens unserer Beziehung von beiden Seiten unverrückbar fest: Wir sind ihnen natürlich Lichtjahre voraus, wissen alles (im Zweifelsfall sogar besser), kennen jeden Trick, verraten aber großzügig die tollsten Kniffe und bieten Kraft und Halt in dieser Zeit des Umbruchs.

Geht dann der reguläre Veranstaltungsbetrieb wieder los, sind wir immer noch eherne Säulen in der chaotischen Flut des Unialltags, stehen mit Rat und Tat zur Seite, und selbst die Einzelkinder unter uns werden zu gutherzigen großen Brüdern respektive Schwestern.
In der Mensa, auf den Fluren und überhaupt rund um die Uni treffen wir all die anderen wieder, die zur selben Zeit wie wir Erstsemester waren. Überschwänglich grüßen wir sie und werden von ihnen gegrüßt und haben darob das sichere Gefühl: Man kennt sich eben, alles alte Haudegen. Und unsere Erstsemester sehen das und denken sich: „Toll, die kennen sich alle. Nur uns kennt eben keiner. Also besser Klappe halten und gut aufpassen, wenn die Großen reden!“ – und selbst wenn sie es nicht denken (so unwahrscheinlich ist es nicht), dann bilden wir uns das eben ein, denn im Endeffekt findet – zumindest rein psychologisch gesehen – die Einführungswoche mindestens ebenso sehr für die Tutoren wie für die Erstis statt: Fachliche Infos im Tausch gegen eine monströse Portion Anbetung - wer das leugnet, lügt oder ist einfach ein besonders guter Mensch, und dann habe ich natürlich nichts gesagt.

Indessen müssen die Erstis auch mit jenem omnipräsenten Gesetz leben, das die Neuen immer erst mal auch die Dummen sind. Oft genug wird man sich über sie kaputtlachen, über ihre Unkenntnis, über ihre Verplantheit oder einfach darüber, dass sie in der Mensa schon um Viertel vor hastig aufspringen, wenn doch jeder weiß, dass die Veranstaltung „pünktlich“ um Viertel nach beginnt. Das Gelächter mag manchmal sogar von uns kommen, den allwissenden Tutoren, aber es ist selten böse Absicht dabei, und außerdem: Da müssen sie durch (mussten wir auch), und das werden sie auch überleben (haben wir auch).

Sollte es nun in diesem oder jedem nachfolgenden Semester vorkommen, dass einer von uns mit allen Wassern gewaschenen Profistudenten mal nicht weiß, wo ein bestimmter Raum ist oder ein Sekretariat, oder wo man Unterschrift X auf Formular Y bekommt, dann, liebe Erstis - ganz im Vertrauen - hilft auch uns nur eins: den nächstbesten vorbeikommenden Studenten zu fragen, genau wie jeder noch so erbärmliche Anfänger. Allerdings werden wir dabei immer wesentlich professioneller und weltgewandter aussehen als Ihr im Moment.

Aber keine Sorge, den Dreh kriegt Ihr auch noch raus!