BdK Folge IV: Nachtbus (Pendler Part II)

von Stefan Berendes

erschienen in Kommunikaze 6, Juli 2003

Es ist sehr spät. Oder sehr früh. Reine Ansichtssache. Wir befinden uns im ungezähmten Niemandsland zwischen zwei Kalendertagen, in jenen schlecht ausgeleuchteten Stunden, die allenfalls Angestellte der Müllabfuhr bewusst auf den Straßen verbringen. Aber derlei Feinheiten überfordern uns zur Zeit. Wir haben entschieden, dass „Morgen“ erst stattfinden wird, wenn wir dann wieder aus dem Bett gekrochen sind. Was noch eine ganze Zeit dauern dürfte, zumal wir uns erst mal hinlegen müssen. Um uns hinlegen zu können, müssen wir das Bett erreichen. Und da wir weder über eine Stretchlimousine mit Fahrer noch über ein Portemonnaie mit Geld für ein Taxi verfügen, nehmen wir den Nachtbus.

Die Verkehrsbetriebe haben es nicht leicht: Wir jammern über sie, beklagen uns und sind erbost: Schlechter Service, hohe Preise, immer unpünktlich - Dienstleistungswüste Deutschland! Aber wenn es hart auf hart kommt, dann müssen sie wieder ran, wie heute Nacht-Schrägstrich-Morgen: müssen die abgekämpften Kohorten zurück in die Heimat befördern. Jene Nachtschwärmer wie uns: Zu betrunken zum gefahrlosen Radfahren und leider zu alt, um Papa samt Familienkombi zum Abholdienst herbeizutelefonieren. Der Kopf fühlt sich an, wie in Watte gepackt, nur wenig dringt zu den dauergeschundenen Ohren durch. Der Gang ist (je nach Härtegrad) linkisch und unbeholfen oder übermäßig exaltiert. Im Stammhirn dröhnt immer noch der stampfende Bass, der Stoffwechsel bewegt sich kolibrigleich im hohen Drehzahlbereich. Der schneidend kalte Nachtwind verschafft kurzzeitige Klarheit.

 An der Haltestelle ein Bild wie im Auffanglager für völlig zerschossene Partypeople: Die einen (eher Mädchen) schnattern aufgeregt und tauschen Lageberichte über den exakten Verlauf des Abends aus. Die anderen (eher Jungs) glotzen einfach nur triefäugig in den Rinnstein, weil die gequälte graue Masse, im Bilder- und Eindrucksoverkill am Rande der Belastbarkeit arbeitend, permanent mit dem finalen Systemabsturz droht, und an allen Enden Ressourcen gespart werden müssen. Die sorgsam aufgetragene Kriegsbemalung ist dahin, an die kunstvoll zurechtgezwirbelte Föhnwelle erinnern allenfalls noch ein paar wirre Strähnen. Das Deo hat (trotz extra-super-XXL-24h-plus-Wirkstoff mit Megaperls und rückfettendem Proteinkalkentfernerkomplex) bei den Wenigsten durchgehalten. Hier und da wird hektisch ein Handy hervorgekramt: Hat „er“ schon eine SMS geschickt? Habe ich „ihre“ Nummer auch wirklich abgespeichert. Einige werfen gar den letzten Anschein von Würde über Bord und klingeln nun doch Papa aus dem Bett.

Dann kommt der Bus. Schweigend steigen die Heimkehrer ein. Der Busfahrer reagiert routiniert und gekonnt, guckt weder angewidert noch mitleidig, wünscht tatsächlich noch einen guten Abend und ist dankenswerterweise auch nicht beleidigt, wenn er keine Antwort erhält. Träge kramen wir das hervor, was durch halbgeschlossene Augen am ehesten wie der Studentenausweis aussieht. Vielleicht ist er’s, vielleicht haben wir auch unsere Organspenderausweise gezeigt - Der Busfahrer reagiert gelassen, hier muss keiner nachlösen. Dafür ist er zu sehr Profi. Dafür ist er zu sehr Mensch. Dieser Mann kutschiert Nacht für Nacht abstoßend betrunkene junge Menschen durch die Stadt und wird nie einen Dank dafür erhalten. Kein Gehalt der Welt kann das bezahlen.

Das Gesicht ruht in den Händen, die schlafende Stadt zieht vorbei. Das diffuse Kunstlicht und das sonore Brummen des Busses verleihen der Atmosphäre etwas seltsam Surreales. Man fühlt sich wie unter Wasser. Das laute Piepen in den Ohren wird einen hoffentlich nur für ein paar Stunden begleiten.

Gespräche sind selten und beschränken sich auf das Notwendigste, aber in jedes Gesicht steht eine Geschichte geschrieben: Die drei Damen vorne links wissen jetzt, dass Rotwein und Altbierbowle nicht zusammenpassen. Der junge Mann hinten rechts sollte in den nächsten 48 Stunden nicht in die Nähe von Schusswaffen gelassen werden. Sein Geschlechtsgenosse in der Wagenmitte glaubt noch (oder wieder?) an die große Liebe, genauer gesagt daran, dass sie ihm nachts um drei in der Technodisco begegnet ist. Im sanften Neonschein ziehen vor dem inneren Auge einige tausend Gehirnzellen vorbei, zum Abschied leise winkend. Jetzt den Kopf zu heben, ist garantiert keine gute Idee - Das findet in diesem Moment auch die Rotwein/Altbierbowle-Fraktion heraus. In der letzten Reihe (wo auch sonst) probiert allen Ernstes ein furchtbarer Mensch sämtliche Klingeltöne seines Handys aus - aber es muss wohl auch solche Leute geben...

Der Bus ist am Ziel, die Türen zischen auf, wir wanken schlaftrunken zur Tür. Die Bestandsaufnahme, das De-Briefing, die Kosten/Nutzen-Rechnung: Das alles wird bis morgen warten müssen. Der Busfahrer, dieser Held des Alltags, wünscht uns zu allem Überfluss auch noch eine gute Nacht.

Werden wir haben. Dem Nachtbus sei Dank!