BdK Folge II: Pendler

von Stefan Berendes

erschienen in Kommunikaze 2, Februar 2003

Montag Morgen. Wieder mal Regen. Die Frisur sitzt vielleicht, vielleicht auch nicht, aber das ist hier nicht der springende Punkt.  Vielmehr geht es um den Zug. Den Zug zur Arbeit, zur Schule, zur Uni, eventuell auch den nach Nirgendwo. Wohin er auch ultimativ fahren mag, er kommt nicht. Noch nicht.

Die Gemeinde kennt das. Das Reaktionsspektrum ist facettenreich: Neu Hinzugekommene reagieren mit ernsthafter Frustration oder mühsam verhohlener Reizbarkeit, wittern hinter der Verspätung ein Symptom der Dienstleistungswüste Deutschland, eine unglaubliche Frechheit schon so früh am Morgen, einen Affront gegen die Menschenwürde oder gar eine weltweite Verschwörung. Ihr derzeit noch festes Vorhaben, dereinst mal einen Beschwerdebrief an die Bahn zu schreiben, „aber einen, der sich gewaschen hat!“, wird schon bald verblassen, denn so viele Beschwerdebriefe kann kein Oberstudienrat verfassen

 - Das wissen auch die Gewohnheitspendler: Diese alten ÖPNV-Hasen reagieren auf den vermeintlichen Untergang des Abendlandes mit stoischer Resignation. Sie schütteln nur matt den Kopf, ein letztes Überbleibsel längst erkalteter Empörung, oder lächeln sich gleichermaßen fatalistisch wie verschwörerisch an: Ihr Spott gilt dabei gleichermaßen dem natürlich völlig unfähigen Verkehrsbetrieb als auch den ungebührlich aufgebrachten Neulingen. Menschen in schlecht sitzenden Trenchcoats, deren akkurat gepacktes Aktenköfferchen immer den gleichen Inhalt hat, nämlich eine Bildzeitung, eine Butterbrotdose (Tupper), eine Thermoskanne (Kaffee, entkoffeiniert) und einen Apfel (gerne aus dem eigenen Garten, zumindest aber ungespritzt), kramen mit gewollt lässiger Geste ihr Handy hervor (welches mit mindestens 95prozentiger Wahrscheinlichkeit  in einer Schutzhülle steckt) und sagen schon mal vorsorglich im Büro bescheid, dass sie so circa zehn bis zweihundert Minuten zu spät eintreffen werden. Ein Pulk Schüler drängelt sich in die Bahnhofshalle, um sich vom Bahnbeamten (und das ist wirklich wahr!) eine Blankoentschuldigung für das nunmehr sehr wahrscheinliche Zuspätkommen ausfertigen zu lassen.

Kommt der Zug dann doch, so wird dies durch einen Satz eingeläutet, der sicherlich mit auf die CD müsste, sollte es einmal eine „Best of Bundesrepublik Deutschland“-Anthology geben:
„Damen und Herren! Auf Gleis eins fährt jetzt ein, Regionalbahn von Struchtrup Süd nach Sottrup Höcklage, planmäßige Abfahrt war 7:13h, bitte Vorsicht bei der Einfahrt!“
Dieser Satz verfügt über mehrere außergewöhnliche Charakteristika, die ihn eigentlich zum Alltime-Favoriten jedes ambitionierten Germanisten machen müssten: Das vorsätzliche Weglassen des doch so dringend notwendigen Possessivpronomens ‚meine’ zu Beginn des Satzes verleiht der angekündigten Tatsache fast staatstragende Bedeutung - „Freunde, Römer, leiht mir Euer Ohr!“ Die Tatsache, dass die Abfahrt zwar um 7:13h war, es aber mittlerweile gut und gerne 7:25h ist, weist darauf hin, dass der deutsche Verkehrsbetrieb eine ganz eigene Art entwickelt hat, mit den deutschen Modi und Realitätsebenen umzugehen: Hätte sich die katholische Kirche je eines solchen Sprachgefühls befleißigt, so könnte man den einmal pro Jahrhundert dräuenden Weltuntergang wie folgt ankündigen: „Brüder und Schwestern! In fünf Minuten passiert der Weltuntergang, planmäßiges Datum war 999, bitte Vorsicht beim Sturz ins Fegefeuer!“

Nun gut, der Zug ist dann also da, langfristig hätte sich das ja eh nicht vermeiden lassen, kommt er nun am Bahnsteig zum Stehen, so hat sich sowohl bei Frischlingen als auch bei Profis, quasi im Rahmen einer großen Koalition, eine Meinung über die Deutsche Bahn oder den jeweils verantwortlichen Verkehrsbetrieb gebildet, die mithin so auch in der CDU kursiert, wann immer es um Angela Merkel geht: „Die kann es nicht, die lernt es nicht mehr!“ Trotzdem entsteht beim Einstieg ein gewisses Gewusel, dem die Profis aber eher gelassen entgegensehen: Ohnehin werden Sitzplätze in einem Pendlerzug weder willentlich noch willkürlich gewählt, sondern allenfalls gewährt, in aller Regel jedoch, ähnlich wie Plätze in einem besonders renommierten Theater, regelrecht vererbt. Sowieso fühlt man sich als Gelegenheitspendler hier fehl am Platze, man dringt sozusagen in eine über Jahre gewachsene soziokulturelle Kommune ein. Daher fehlt einem vorm Losfahren eigentlich auch das Kasperle, welches das immer gleiche Publikum mit den Worten „Sind auch alle daaaa?“ zum allmorgendlichen Höllenritt begrüßt. Es sind alle da, also kann es endlich losgehen, mittlerweile mit fünfzehnminütiger Verspätung.

Die Fahrt in einem Pendlerzug stimmt einen zunächst merkwürdig: Keiner schaut aus dem Fenster, was bei näherer Betrachtung ja eigentlich wenig verwundert. Die Szenerie ist nämlich morgens um sieben eher dunkel, neblig und undurchschaubar, bietet, je nach Bundesland, weite Auen, steile Höhen und zahlreiche Industrieanlagen in wechselndem Zustand des Verfalls, vor allem ist sie für den Pendler aber eines: Sattsam bekannt. Meines Erachtens könnte man Pendlerzüge fensterlos bauen, es würde kaum auffallen, nur Kunstlicht müsste da sein, jede Menge Kunstlicht.

Das Auge muss sich also nach innen wenden, und hier findet es morgens um sieben Uhr eine Form der menschlichen Existenz, die in fast amöbenhafte Züge zurückgefallen ist: Unter sanft schimmerndem Neonlicht reduziert sich hier der menschliche Erlebnis- und Gefühlshorizont in halbschlafartiger Trance auf maximal die nächsten 15 Minuten. Wer im Pendlerzug in der taz blättert, der tut das nicht aus Profilneurose sondern aus genuinem Interesse - frühmorgens reicht die Geistesleitung meist nicht bis zur Selbstdarstellung. Sicher, einige kritzeln auf dem Weg hastig vergessene Hausaufgaben, büffeln Grammatik oder versuchen eine differenzierte und engagierte Diskussion zu führen, aber diese Menschen wirken wie Fremdkörper, wie Relikte aus der wachen Welt. Frühmorgens pendeln heißt Ja-sagen zum Wachkoma, weißes Rauschen für den Geist: Im Pendlerzug werden keine Kriege gewonnen, hier erhält der Satz „Der Weg ist das Ziel!“ eine neue Bedeutung.

Läuft der Zug dann mit sicherlich erheblicher Verspätung im Zielbahnhof ein, erheben sich die Passagiere nur unwillig und träge, wanken roboterhaft zu Ausstieg, Bahnhofsausgang und dann vielleicht Bussteig. Wie kurz nach der Geburt fühlen sie sich, gegen ihren Willen herausgerissen aus der warmen Nichtigkeit, hinausgestoßen in die harte kalte Realität, wo man nun zu allem Überfluss auch noch zu spät kommt, wo es auf einmal doch Stechuhren gibt und nun doch Mathearbeiten geschrieben werden.

Mit glasigen Augen klettern die Pendler in jene Busse, die sie nun endlich zum Ziel ihrer Reise bringen werden, ins Büro, zur Schule, zur Uni oder gar nach Nirgendwo. Zischen im sicheren Schoß des ÖPNV durch meist heruntergekommene Bahnhofsviertel und holen sich so ihre tägliche Dosis Rotlichtviertel auf Vergnügungsparkbasis. Nur ist es für sie keine Vergnügung mehr, an diesem Morgen um etwa acht Uhr. Verspätung hin oder her, im Bus werden sie alle noch kurz die Augen schließen und träumen...
...Träumen vom sanften Halbschlaf unter Neonbeleuchtung.