Grusel-Körperfresser

von Anna Groß

erschienen im Rahmen der Titelrubrik in Kommunikaze 21, Oktober/November 2006

Für einen Lehrauftrag an der Universität Osnabrück bekommt man 700 bis 800 Euro pro Semester. Zum Glück sind die Dozentinnen, die uns durch unser Studium begleitet haben, alle keine Spießer, die laufende Kosten, wie für Wohnraum oder Kinder zu bezahlen haben. Das wäre nämlich schwierig, jetzt wo ihre langjährigen Arbeitsverträge in befristete Lehraufträge umgewandelt werden. Wahrscheinlich saßen sie all die Jahre doch nur auf gepackten Koffern und dachten sich, nichts wie weg aus diesem lausigen Kaff.
Aber eigenartig ist es schon, wenn nun bald jeder einzelne Student annähernd so viel Studiengebühren zahlen muss, wie eine Lehrbeauftragte gerade mal verdient... Dürfen die auch umsonst Bus fahren?

Sicher, jetzt werden viele studentische Nebenjobs frei, weil die Studenten ja eh nicht mehr gegen ihre Verschuldung anarbeiten können. So könnten uns bald die Dozentinnen in den Kneipen das Bier servieren oder telefonisch Zeitungsabos aufschwatzen. Vielleicht könnten die Studenten selbst, natürlich unbezahlt, Lehrveranstaltungen halten und sich diese als Praktika anrechnen lassen. Geld ist ja auch nicht alles. Man soll mit Herzblut dabei sein und alles aus Leidenschaft machen. Außerdem müssen alle den Gürtel enger schnallen. Bei H&M gibt es die Damenmode nun auch in den Größen 158 und 162, lustigerweise genau die Größen, die ich in den modisch gerade wiederkehrenden späten 80ern trug, also im Alter von 6 bis 10 Jahren. Ist die Frau von heute das Kind von gestern?

Wir sollten ganz schnell machen, dass wir fortkommen. Jetzt! Abhauen! Wegrennen!
Denn jetzt sieht oberflächlich noch alles ganz normal aus, aber jeder weiß doch, dass da etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Der Organismus hält sich auf perfide und abgründige Weise selbst am Leben. Wie ein großes Tier im Zoo, das sich auf der vom Zuschauer abgewandten Seite selbst auffrisst, während die Leute noch dastehen und glotzen und sagen, guck mal, so’n Leben möchte ich mal haben.  Wie Hühner in der Legebatterie, die zwar noch Eier legen, aber ihren eigenen Körper schon bis auf die Knochen abgepickt haben. Dabei weiß doch jeder, dass man in Notsituationen (verhungern, erfrieren, verdursten weil verschüttet oder Flugzeugabsturz) niemals anfangen darf, seinen eigenen Urin zu trinken oder sich selbst die Finger oder Füße abzunagen. 

Wir sollten ganz schnell machen, dass wir fortkommen von diesem grässlichen Ort. Es reicht doch, wenn wir später unsere eigenen Kinder fressen, ohne den Umweg über universitäre Bildung und Legebatterien. Ganz schnell fertig werden, und essen? Ach, wir werden doch sowieso nicht satt. Dieses hohle Gefühl im Inneren, diese Leere, die wächst und wächst. Aber das ist doch die Unabhängigkeit! Man kann sich doch auf nichts mehr verlassen heutzutage. Und dann findest du dich irgendwo selbst, zappelnd und zuckend und du rennst und rennst, weil du willst ja weg, du willst ja gar nicht mitmachen bei dem ganzen Scheiß und dabei trittst du bei 400 Watt auf der Stelle und die Klarheit, für einen winzigen Augenblick: irgendwas fehlt. Wo bleibt die ganze Energie? Und dann, schmutzig, klebrig und versalzen, das Gesicht im Spiegel: eingefallen und irgendwie ausdruckslos. Doch weg, weg, du willst dich ja nicht selber fressen. Du willst doch leben! Nicht so wie die anderen, gefangen in dem Hamsterrad und unterm Joch, für nichts, für einen Tritt in den Hintern. Du ja nicht. Du rennst und würdest alles tun, wie die Hunderttausend neben dir, die es für noch weniger machen würden, weil sie alle sind wie du und ich – Maschinen.   

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