Was macht eigentlich Herr von Bödefeld?

von Jan Paulin


erschienen im Rahmen der Titelrubrik in Kommunikaze 19, Juni 2006

Von allen öffentlichen Transportmitteln ist der Linienbus für mich das fescheste. Und unter allen einleitenden Sätzen, die ich bisher für Kommunikaze geschrieben habe, wird mir dieser wahrscheinlich für immer der liebste bleiben.

So ist es eben nun mal! Ich sage Pfui zu allen Stadtbewohnern mit protzigen U-Bahn-Netzen. Ihr reckt eure Näschen grundlos in den Himmel. Denn auch ohne Tunnelpups kann man beispielsweise Ausrichter der Bundesgartenschau 2015 werden. Ängstlich haben ja sogar unsere Nachbarn in Bielefeld nunmehr Teile ihrer Stadtbahn in den Untergrund verlegt, um ein bisschen Großstadtflair aufkommen zu lassen. Gebracht hat es nichts, in der Schüco-Arena wird auch kein WM-Spiel ausgerichtet. Die Stadt ist allemal durch den Mythos der „Bielefeld-Verschwörung“ bekannt geworden, der besagt, dass es sie eigentlich gar nicht gibt.

Wir in Osnabrück dagegen steigen aufrechten Schrittes am Neumarkt in unseren Bus ein und beklagen uns nicht. Hier ist man zufrieden mit dem, was man hat und das sogar so sehr, dass die Legende von den „glücklichsten“ Menschen aus der Hasestadt immer noch Wellen schlägt. Tausende rote Aufkleber fahren quer durch die Republik und tun kund davon. So wissen nun zum Beispiel auch die Kölner, dass man trotz fehlender Statussymbole im öffentlichen Nahverkehr alles andere als unzufrieden ist in Osnabrück. Warum auch? So exquisit wie etwa im 52er Gelenkbus Richtung „Wüste“ kann ich nirgends blöde aus dem Fenster glotzen. Wo in Städten wie Berlin und München hinter der Scheibe nur nackter, dunkler Fels vorbeizieht, da hat man hierzulande beste Aussicht auf die Tintenabfüllstation an der Martinistraße oder die aus dem Weltall gesteuerte Zeitanzeige über der Arndtplatz-Sparkasse. Hier findet man sie noch, die ganz großen Themen für anspruchsvollen Investigativ-Journalismus. Sie liegen förmlich in der Luft. Und tatsächlich: Zwischen den Haltestellen „Jahnplatz“ und „Hoffmeyerplatz“ findet sich ein Spruch in unübersehbar großen Lettern an eine Häuserwand gesprüht: „1,2,3 Krustentier... Herr von Bödefeld“. Nie hätte ich es gesehen, wäre ich unter Tage an dieser Stelle vorbeigeschossen.

Herr von Bödefeld also: Der Bad Boy aus der Sesamstraße, bekannt durch seinen ständiges Beharren darauf, gesiezt zu werden, soll angeblich 1988 bei einem Grossbrand in den Hamburger Studios des Norddeutschen Rundfunks ums Leben gekommen sein. Im zarten Alter von 8 Jahren traf mich diese Nachricht damals wie ein Schlag. Meine heile Fernsehwelt war aus den Fugen geraten. Als der blassrosa Nasenbärschnauzer mit der orangefarbenen Spaghettifrisur nach zweijähriger Trauerzeit dann endgültig durch einen miserabel aufspielenden Griesgram Rumpel ersetzt wurde, war mir, zumindest für kurze Zeit, klar, dass hier ein riesengroßer Skandal im Gange war. Ich wähnte die Macher im Verdacht, den aufmüpfigen Herrn von Bödefeld mit Absicht vom Bildschirm eliminiert zu haben und womöglich das Feuer auf dem Studiogelände nur als Notlüge vorzuschieben, um den Anti-Helden des Ensembles in den Ruhestand zu schicken.

Doch dann fiel die Mauer, Deutschland wurde Weltmeister, und während die Scorpions im Radio den Wind des Wechsels besangen, vergaß ich mein Trauma. Ein neues Gerät hielt Einzug in mein Kinderzimmer und ließ mich meine ehemaligen Freunde aus der Sesamstrasse schnell vergessen: Der C 64. Von nun an waren es die Gianna Sisters, die meine vollkommene Aufmerksamkeit anzogen.

Heute kann ich diejenigen überhaupt nicht verstehen, die sofort feuchte Augen kriegen, wenn sie an ihren alten Commodore denken. Der 64er, den ich mir so lange gewünscht hatte, flog zumindest aus meinem Zimmer schnell wieder heraus. Jetzt, wo ich tagtäglich an dem Graffiti mit dem Namen von Uli von Bödefeld vorbeifahre, denke ich stattdessen immer häufiger an den holzverkleideten Schwarzweiß-Fernseher meiner Großeltern, vor dem ich so oft pünktlich um 18.00 Uhr auf ihn wartete.

Und plötzlich ist er wieder da, der polarisierende Held meiner Vorschulzeit, das Enfant Terrible des Puppentheaters, der Klaus Kinski des Kinderfernsehens. Da sind sie wieder, die etwas zu dürren Ärmchen auf einem korpulenten Oberkörper. Auch das ständige Haar-Zurückstreichen und das eitle Kopf-in-den-Nacken-legen erkenne ich wieder. „Doch nicht tot, ich hatte also wirklich Recht“, denke ich, bevor mir vor Schreck die Fernbedienung aus der Hand fällt. Denn was ist das? Er trägt einen Fußball unter dem Arm, ein weißes Leibchen um den kugeligen Vorbauch und... er hat keine Hosen an! Der Sportreporter nennt ihn jetzt Goleo VI. und klopft ihm fröhlich auf die Schulter, während dieser ungeniert und hosenlos in die Kamera winkt. Blitzschnell wird mir klar, warum in der Sesamstraße immer nur die obere Hälfte des androgynen Wesens gezeigt wurde: Immerzu lümmelte Herr von Bödefeld hinter irgendwelchen Tresen, Schachteln oder Mauern herum, eben weil es abwärts gesehen einfach nichts zu zeigen gab. Bisher. Die FIFA sieht neben der Eröffnungsfeier für die Fußball-Weltmeisterschaft wohl ebenso wenig Notwendigkeit darin, ihr offizielles Maskottchen mit angemessener Beinkleidung auszustatten. Das Geld fließt wahrscheinlich in die Bewirtung der VIP-Gäste mit Sponsorentickets.

Wie aber konnte sich Herr von Bödefeld zu so etwas hinreißen lassen? Ebenso gut wäre es gewesen, als professioneller Kirchenjodler auf dem Stoppelmarkt oder bei einem Konzert von Tokio Hotel als schwule Weltraumorgel aufzutreten. Enttäuscht greife ich zum Hörer und wähle die Nummer der FIFA. Ich gebe mich als Ressortleiter der Abteilung „Zeitgeschehen“ bei der Kommunikaze aus und ergattere einen Termin mit Goleo von Bödefeld VI. in München.

Wir treffen uns am Marienplatz, wo gerade ein begehbarer Fußball interessierte Besucher auf die WM vorbereiten soll. Immer noch ohne Hose steht Herr von Bödefeld davor und reißt die Karten der Eintretenden ab. „Sind sie der Typ von der Kamikaze“? Mein Notizblock und die Kamera sprechen wohl Bände. „Ja das bin ich, angenehm“, erwidere ich, bereits daran gewöhnt, dass sich niemand den Namen unseres Blattes merken kann. Wir plaudern kurz und verabreden uns in einem nahegelegenen Café. Ich soll dort warten, bis die Vorstellung im Inneren des Balles läuft, und er eine Pause machen kann. Gespannt bestelle ich einen Cappuccino und beobachte Herrn von Bödefeld in seiner neuen Montur. Er scheint etwas kurzsichtig geworden zu sein, auf seine alten Tage. Jemand hat ein Fahrrad neben dem Eingang zur WM-Kugel geparkt, über das Goleo nun stolpert und zu Boden stürzt, während er eigentlich den Passanten zuwinken wollte. Sofort brechen alle in schallendes Gelächter aus und machen sich über ihn lustig. Nur ein kleiner Junge greift ihn am Arm und hilft dem behaarten Maskottchen auf die unbeholfenen Beine. In diesem Moment ist er urplötzlich wieder da, der Held aus meinen Kindertagen. Als ich so aus dem Fenster starre und die beiden beobachte, wird mir klar, dass nur die Erwachsenen über Goleo gelacht haben. Der Kleine dagegen streichelt ihn liebevoll am Arm und fragt nach einem Autogramm. Da wird es mir klar: Ob nun Goleo oder Herr von Bödefeld, sie bringen die Welt ins Kinderzimmer. Und tatsächlich stammen sie aus der gleichen Werkstatt, nämlich der Jim Henson Company in den USA. Einzig, in die Welt der Fußball-Ultras auf den Stehrängen passen sie eben leider nicht hinein. Darum werden sie ausgelacht.

Ich bestelle die Rechnung und verschwinde, bevor ich überhaupt mit Goleo geredet habe, denn es ist nun egal. Herr von Bödefeld wird immer noch mein Sesamstrassen-Idol aus Kindertagen bleiben, ob nun wiedergeboren oder nicht. Denn auch Goleo macht trotz aller Schmähungen seinen Job gut und ich kann beruhigt die Heimreise antreten. Natürlich mit dem Bus.