erschienen im Rahmen der Titelrubrik in Kommunikaze 19, Juni 2006
Stadtkämmerer Günther Wiesenheu fühlte plötzlich, dass er sterben würde. Schweißperlen bildeten sich auf seiner hohen Stirn, während er mit letzter Kraft versuchte, sich seines Angreifers zu erwehren. Doch Kommunikaze-Auslandskorrespondent Sven Kosack war zu stark für ihn. Mit eisigem Killerblick blickte er Wiesenheu in die Augen und fragte: „Und, wirst Du reden?“ Wiesenheu wurde trotz der Hitze kalt. Woher wusste der Reporter bescheid? „Rede, und ich lasse Dich leben“, schnarrte Kosack noch einmal und drückte Wiesenheu tiefer der dampfenden, heißen Masse entgegen. „Aber ich weiß doch nichts“, flehte der Stadtkämmerer. Da explodierte der Reporter. Er war so weit gekommen, er hatte so lange recherchiert, er würde sich nicht von einem kleinen Kämmerer aufhalten lassen. Mit einem raschen Griff packte er Wiesenheus Krawatte und ließ sie in die Kaffeetasse unter ihm fallen. Der Stadtkämmerer wurde bleich. Er sah, wie der Kaffee Zentimeter um Zentimeter die Krawatte hinaufstieg. Immer näher kam das heiße, koffeinhaltige Getränk seinem Hals. Ein letztes Mal versuchte er, sich gegen seinen Angreifer aufzulehnen, doch Kosack war zu stark. Wiesenheu hatte nur noch wenige Sekunden, bevor er bei lebendigem Leib verbrennen würde! „Ich werde reden!“, brüllte er, und registrierte erleichtert, wie sein Gegenüber die Krawatte mit einer Schere abschnitt und samt des heißen Kaffees in den Mülleimer warf. Der Reporter zückte seinen Notizblock und einen spitzen Bleistift und blickte den Kämmerer durchdringend an. „Also gut, Wiesenheu. Was ist das Geheimnis von Bielefeld?“
Der schluckte, tupfte sich die Schweißperlen von der Stirn und begann zu reden. „Ende der 70er Jahre begann die Musikindustrie, Platten immer schneller und schneller verkaufen zu wollen. Sie mussten ihre Verluste aus den Flops der Rattles und der Quietschboys ausgleichen. Die Studios spuckten immer schneller Stars, Sternchen und One-Hit-Wonders aus und die Arbeitsämter füllten sich mit halbvergessenen Altstars. In dieser Notlage entschloss sich der Militärische Abschirmdienst (MAD), ein geheimes Programm zum Recycling der Altstars einzuleiten. Ein Testareal bei Paderborn wurde mit einer Stadtkulisse bebaut, die Bauarbeiter anschließend umgebracht. Niemand durfte von dem Projekt wissen. Anschließend entführte man die ehemaligen Stars, verpasste ihnen eine Gehirnhälfte und eine neue Identität und verfrachtete sie auf dieses Testgelände, das man dann „Bielefeld“ nannte – Abkürzung für BundesInstitut für ehemalige liederproduzierende Elemente und Feldbasis für ehemals leidlich Durchgeknallte. Die Altstars lebten sich schnell ein und konnten sich hier eine neue Existenz aufbauen. Bitte, verraten Sie ihren Lesern davon nichts, sie würden zehntausende ehemalige Fans nach Bielefeld locken.“ Der Kommunikaze-Auslandsreporter hatte jedes Wort notiert und nickte. Die potenzielle Gefahr für die Einwohner Bielefelds, von Fanhorden und kreischenden Teenagern, die in die Dreißiger gekommen waren, zertrampelt zu werden, war ihm wohl bewusst. Er stand auf und verließ das Büro des Stadtkämmerers.
Als er am Empfang der Behörde vorbeikam, grüßte ihn eine junge Frau. Sie erinnerte den Reporter lebhaft an die Sängerin von „Mr. President“. „Frau König“ stand auf ihrem Namensschild. Der Reporter zwinkerte ihr zu. Auch auf der Straße kamen ihm viele Gesichter bekannt vor. Dieser Bäcker etwa in der Bäckerei „Joachim Hässlich“. War das nicht der Bassist von Ugly Kid Joe? Oder die Buchhandlung Bodelschwingh? Wurde die nicht von Mitgliedern von E-Rotic betrieben? Und nun, da er die Augen einmal geöffnet hatte, stürzten die Beispiele nur so auf ihn ein: Tierhandlung Jungermann – Pet Shop Boys. Kulturzentrum Schlag – Culture Beat. Elektrohandel Müller – Technotronic. Martina Dreher – Tina Turner. Städtische Kekshandlung – Urban Cookie Collective. Friseur Schwarzhaar – 4 Non Blondes. Kneipe Kopflos – Haddaway. Imbiss Frikadelle – Meatloaf. Der Reporter nickte befriedigt. Und während er noch die Warnung an seine Leser unter seinen Artikel kritzelte, dies alles möglichst schnell zu vergessen, fiel ihm auf, dass einer fehlte. Tja, Frank war halt nach Hollywood gegangen.
