Was macht eigentlich die Dampflokomotive?

von Olker Maria Varnke


erschienen im Rahmen der Titelrubrik in Kommunikaze 19, Juni 2006


Wer erinnert sich nicht? Als wäre es gestern gewesen, haben wir die Dampflokomotive vor Augen, die bei unserem ersten Lichtspielhausbesuch unaufhaltsam auf uns zu rast. Es gibt kein Entrinnen – der Aufprall steht unausweichlich bevor. Wie unsere Nachbarn beginnen auch wir, um unser Leben zu schreien, versuchen, vor dem stählernen Ungeheuer aus dem Saal zu fliehen, sodass manch einem gar der Zylinder vom Kopf fällt. Doch rasch zeigt sich, dass wir nur der Kameraperspektive zum Opfer gefallen sind: Die Dampflok konnte uns gar nicht niederwalzen, war sie doch sicher auf Filmstreifen gebannt. Der Fortschritt der Technik also hatte uns zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts einen Streich gespielt, so wie er Jahrzehnte später auch der unverwundbar erschienen Protagonistin des kleinen Filmchens, das uns so in Aufregung versetzt hatte, einen Streich spielen sollte - der Dampflokomotive.


Oh stählernes Ross, was ist aus Deiner Anmut und brachialen Schönheit geworden? Wohin sind Deine unsagbaren Kräfte und majestätischen Kolben verschwunden? Wie werden wir wieder Deines prall gefüllten Kohlentenders und Deines feurigen Innenlebens gewahr? Nichts von Deinem Pathos, Deiner Poesie haben Deine Nachfolger – die doofe Diesel- oder die langweilige Elektrolokomotive. Nur Du allein vermochtest uns in den Bann der Bahn zu ziehen, lehrtest uns die Mobilität lieben, machtest den Weg zum Ziel.

 

Was aber, Dampflokomotive, ist Dein Schicksal? Heute finden wir Dich still und bewegungslos in Museen, wo manchmal ein letztes Exemplar einer Deiner Baureihen unwiederbringlich verbrennt, oder Du von einem zum anderen Gebäude durch die Münchner Innenstadt transportiert wirst. Doch welch Hohn: auf einem LKW!

 

Wir haben Dich der Schnelligkeit und dem Naturschutz geopfert. Ich glaube nicht, dass es das wert war.