erschienen im Rahmen des Titelartikels in Kommunikaze 18, April/Mai 2006
Das Leben ist Poesie. Es ist eine Bergwiese voll von schönen Blumen und von Kuhfladen. Glück oder Unglück hängt allein davon ab, was man mehr anschaut.
Als Dirk Bolte an diesem Abend auf der Bettkante in seinem Hotelzimmer saß, hatte sich der Pansen des Schicksals in den vergangenen Stunden so oft auf die kleine Bergwiese des Staubsauger-Vertreters entleert, dass an Blumen Pflücken nicht mehr zu denken war. Früh morgens hatte er sich in seinen grauen Konfektionsanzug gezwängt und mit einem eingeübten Lächeln in den Spiegel geschaut. Die morgendliche Pose war im Laufe der Jahre zum Ritual geworden, fast wie bei einem alternden Rockstar, der sich noch mal zwischen die Eier grabscht, bevor er die Bühne betritt. Als ob sie nach einem ausschweifenden Leben als Star irgendwann einfach nicht mehr da sein könnten. Bolte hatte nachgerechnet. In seinen 25 Jahren Außendienst hatte er selbst rund 19.000 Auftritte in deutschen Wohnzimmern gehabt. Jetzt war er 43 Jahre alt und fertig. Er hatte Angst, das gewinnende Verkäufer-Lächeln könnte eines Tages einfach weg sein. Die Pose war zur Neurose geworden. Er hatte auch Angst vor den neuen Konkurrenten. Schneidige junge Männer in enganliegenden, dunklen Anzügen, moderne Menschen, die moderne products an wieder andere moderne Menschen verkauften. Er selbst hatte einen kleinen Bauch angesetzt.
Bolte hatte in der Schule nie ordentlich Englisch gelernt, stattdessen sprach er ein perfektes Denglish, was ihm auf Seminaren seiner Firma von überaus motivierten Verkaufstrainern beigebracht worden war: „Sie müssen beim potenziellen customer ein emotional-interest an unserem product erzeugen. Wenn er emotionally an dem product hängt, dann ist das schon fast ein sales-promise.“ So hatte Bolte auch an diesem Morgen wieder seinen Fuß auf dem Weg quer durch die Republik erst aufs Gaspedal gestemmt, und anschließend in se doorstep von wildfremden Menschen. Früher war er der Beste in seinem Geschäft gewesen. Aber seit einigen Jahren hatten andere das Ruder übernommen.
Nach Berlin-Moabit hatten sie ihn heute gescheucht, gute zweieinhalb Stunden Autofahrt von seinem Heimatort entfernt. Die vorteilhaften Gebiete bekam er schon lange nicht mehr zugewiesen. Die Hauptstadt tat weh um diese Jahreszeit. Besonders im Gesicht. Besonders im Bezirk Moabit. Boltes Hände und Füße waren schon tiefgefroren. Niemand wollte das neue Flagschiff der Produktpalette, den Zyklon 3000, von ihm vorgeführt bekommen. Das Lächeln zog nicht mehr. „Guter Mann, ich brauche keine Zyklon-Technik in meiner Wohnung, wir sind hier nicht beim Kampfstern Galaktika“, hatte ihm ein frecher Student zuletzt ins Gesicht gegrinst. Im Treppenhaus war er dann einem der neuen Mitarbeiter in die Arme gerannt. „Na Bolte, ham´ se dich aber weit weg geprügelt heute. Musste schon Moabit abklappern mittlerweile? Hab´ gehört, dasse einspar´n woll´n, da musste dich wohl ganz schön ranhalten jetze. Kuck mich ma an: Ich hab der Alten ganz oben den 3000er aufgeschwatzt. Und nachher geht´s nach Magdeburg, da ham´ se noch gar keine verkauft. Set iss Rock ´n´ Roll! I love Fahrtwind, baby!“
Einige Zeit später saß Bolte auf der Bettkante seines Hotelzimmers und trank Kümmerling aus der Minibar. „Fahrtwind, Fahrtwind, I don´t love se Fahrtwind anymore“, murmelte er, während er hinausblickte auf den Alex. Seine Frau hatte sich alles andere als erfreut über die Nachricht gezeigt, dass nun auch noch der Wagen kaputt gegangen sei und er das Wochenende in der Hauptstadt verbringen müsse. Angesichts der Tatsache, dass ihre Ehe schon lange nicht mehr harmonisch verlief und sie schon seit Tagen wegen einer Kleinigkeit im Clinch lagen, hatte sie böse Absichten seinerseits vermutet. Im Eifer des Gefechts war das Wort Scheidung gefallen. Er nahm die Krawatte ab, ließ sich auf sein Bett fallen und machte das Radio an. Es lief The Passenger von Iggy Pop. Langsam dämmerte er weg, und Bolte wurde plötzlich ganz leicht.
Bevor er jedoch vollständig ins Reich der Träume versank, wurde er von einem jähen Knall zurückgerissen. Im Zimmer nebenan wurde die Tür roh in ihre Angeln geworfen. Sofort darauf setzte großes Geschrei ein, dass sich für Bolte anhörte, wie bei einer Rauferei unter Kindern. Die Stimmen der Ruhestörer überschlugen sich, wenn sie in den höchsten Tonlagen ankamen. Das ganze hatte einen Stich ins Hysterische, etwa so wie die Geräusche, die seine Tochter manchmal vor dem Fernseher machte, wenn sie diese pickelige Jungenband ansah, deren Namen er sich nie merken konnte, aber auch irgendetwas mit einem Hotel zu tun hatte. Obwohl Bolte noch nicht ganz wieder bei sich war, merkte er, wie sich ein tiefsitzender, dumpfer Zorn von ihm Besitz ergriff, als sei er durch den Halbschlaf freigewaschen worden und nun, angestoßen von der nächtlichen Ruhestörung, in den alkoholhaltigen Strom seiner Adern geraten. Was an Geräuschen durch die Wand drang, hörte sich an, wie ein Pavian-Gehege im Zoo, in dem sich das Rudel um den besten Schaukelreifen streitet. Er rollte sich vom Bett und sprang im Halbdunkel durch das Zimmer auf den Flur hinaus, überrascht wie behände er seinen übergewichtigen Körper im Griff hatte. Noch immer war Bolte ganz leicht, etwas in ihm hatte sich befreit und stieg nun auf wie ein Heißluftballon. Er sparte sich anzuklopfen, stürmte stattdessen sofort in das fremde Zimmer und blieb erst in seiner Mitte wieder stehen.
Auf dem Bett hüpfte gerade ein zotteliger Mensch mit einer Gitarre auf und ab. Daneben lag ein umgefallener Sektkübel, dessen zerstoßener Inhalt halb ins Laken, halb in den Teppichboden einsickerte. Davor ein weiterer verlottert wirkender Kerl in zerrissenen Jeans, der seinen Rücken durchbog wie ein Bodenturner. Er spielte Luftgitarre und war Urquelle des affenartigen Gesangs. Als sie Bolte mit seinem halbaufgeknöpftem Hemd bemerkten, hielten sie verdutzt inne. Der Mensch mit der Gitarre fragte ihn etwas auf Englisch, das er nicht verstand. Der Staubsauger-Verkäufer kannte die Vokabeln nicht, die er gebrauchte. Er schien noch dazu mit erheblichen Akzent zu sprechen. Verdutzt schauten die Affen zu Bolte, wie auf eine Raumkapsel. Dann blickten sie sich gegenseitig an. Der Bodenturner stand umständlich auf und machte einen Schritt auf den Eindringling zu. Jetzt wiederholte er eine Frage, die Bolte verstand: „Manager? Are you the manager?“ Und dann sagte er etwas, dass er heute schon einmal gehört hatte: „O come on! That´s Rock ´n´ Roll, man!“ In diesem Moment brannten Bolte´s Sicherungen durch und er explodierte: „Ach so, ja, Rocknroll also! Aha, na denn woll´n wa mal sehn!“ Mit diesen Worten nahm er den nächstbesten Gegenstand, einen halbvollen Aschenbecher, und schleuderte ihn mit voller Wucht an die gegenüberliegende Wand. Der Staub rieselte in einer grauen Wolke durchs Zimmer, während sich die beiden Fremden wieder verdutzt anschauten und dann in schallendes Gelächter ausbrachen. Einer der Engländer umarmte Bolte und drückte ihm eine Flasche in die Hand, die er zuvor aus der Minibar gegriffen hatte. Der Andere fing wieder an auf der Gitarre zu spielen und trat nun beim Hüpfen gegen das furnierte Rückenteil des Bettes, als habe er nur darauf gewartet. Schnell krachte es aus den verschraubten Halterungen. „A soulmate, that´s what we needed after this gig“, schrie der Bodenturner und schob seinen Gast zum Fenster. Dann stellte er sich ihm gegenüber hin und riss den Vorhang von der Stange. Bolte war paralysiert. In diesem Moment hätte er nicht mal mit Sicherheit sagen können, ob die Uhr vorwärts, rückwärts oder seitwärts tickte. Während hinter seinem Rücken von dem Gitarristen ein Doppelbett zu Staub und Asche zerlegt wurde, kam er leichten Fußes auf ihn zu, nahm seine Hand und riss mit ihm gemeinsam auch die andere Hälfte des Vorhangs hinab. Bolte schaute ihn fassungslos an. Langsam begriff er was hier passierte. Und er war bereit dafür! All die Wohnzimmer fremder Menschen, all die Hotelzimmer in fremden Städten, die nach einer Weile alle gleich aussahen. Hier konnte er Dampf ablassen, das war der Moment der Rache. Er entschied schnell: Gemeinsam mit der Rockband würde er hier und jetzt gegen sein Vertreter-Schicksal rebellieren. Auch er war on tour und wollte nicht mehr. Die Musiker und er, sie waren vom gleichen Schlag. Er wollte nichts von diesem Raum übriglassen.
Als Bolte am späten nächsten Morgen im Zug saß, hatte er immer noch eine leichte Fahne. Er öffnete das Fenster und streckte seinen Kopf heraus. Als ihm die erfrischende Brise ins Gesicht wehte, fühlte er sich endlich wieder gut. Er hatte dem ahnungslosen Hotelmanager vor seiner Abreise noch zehn 3000er aufgeschwatzt. Im zerstörten Zimmer der Rocker hatte er bestes Vorführmaterial gehabt. Im Fahrtwind blickte er auf die Wiesen, die an ihm vorbeirasen und musste grinsen. Es stimmte schon, alles war einfach nur Rock and Roll. Manchmal.
I Love Fahrtwind, Baby!
von Jan Paulin

Illustration: Christian Reinken