Energiekrise - Deutschland geht Kaffee trinken.

von Anna Groß

erschienen im Rahmen des Titelartikels in Ausgabe 16, Dezember 2005

Energiekrise. Über 80 000 Menschen leiden an Winterdepressionen. 
Deutschland geht Kaffee trinken. Dabei ist der Kaffee das Unwesentlichste das zum Kaffee trinken gehen gehört. Unter hundert sind doch höchstens zehn, welche von der Gier nach dem unentbehrlichen Schälchen getrieben werden. Die übrigen gehen, weil, ja warum denn? Nun, wohin soll man denn sonst gehen? Wo soll man seine Zeit totschlagen? Was soll man denn nur anfangen mit all der überflüssigen Zeit, mit dem überflüssigen Selbst?  
Ganz merklich befinden wir uns in einer großen Energiekrise. Niemand kann es sich mehr leisten zu heizen oder heiß zu duschen. Es wird zu Hause immer ungemütlicher.
Nicht leben wollen, nicht sterben können, sich wollüstig der Selbstmarter hingeben. Die drückende Schwere des Seins als Resultat der Erkenntnis, vollkommen überflüssig zu sein, nicht gebraucht zu werden. Die Menschen drücken sich in Cafés herum und versuchen, durch den Genuss von koffeinhaltigen Getränken der Lethargie und der mangelnden Energiezufuhr durch Nahrung entgegen zu wirken. Das nicht benötigte Humankapital konserviert sich selbst durch dehydrierende Getränke.

Eine neoexpressionistische Epoche bricht herein. Wie jeder, der offenen Auges durchs Leben geht, sehen kann. Wir natürlich als erstes. Eine Stimmung, die sich genussvoll dem Untergang hingibt, dem Wahnhaften, Kranken. Die Neurotischen, die Allergiker, die Müden, die grau aussehen und sagen, du, ich könnt mir vorstellen, auch mal ganz was anderes zu machen. 

Wir schreiben hässliche Gedichte als Schrei einer inneren Wahrheit in Sonettform. Unter anderem natürlich. Außerdem geht man auch in anderen Ländern Kaffee trinken. Aber in Deutschland trinkt man ausländisch Kaffee. Latte machiato, Café au lait oder einen Galao. Fremdes, das nach Gewohntem  schmeckt.

Spießige, pseudointerkulturelle Erfahrungen, auf der Suche nach Auswegen aus der Stagnation. Doch bloß nicht zu lange darüber nachdenken. Diese rauchgeschwängerte Luft, dieses Durcheinanderschwirren von Kommenden und Gehenden, gesprächige Gäste und geschäftige Kellner, Gewirr schattenhafter Erscheinungen und ohrenbetäubender Espressomaschinen, machen jedes ruhige Nachdenken, jede gesammelte Betrachtung, unmöglich. Nervliche Überreizung, Verlust der Aufmerksamkeit. Wir brauchen eine Sensation! Heraus aus der öden Gedankenlosigkeit! Raffinierte Ausschweifungen! Die Entdeckung der Provinz.

Sonntags dann auf der Flucht vor dem Konsumverbot, auf der Suche nach dem Wahrhaftigen, dem Ursprünglichen: ganz klassisch, das Ausfluglokal.
Es mutet exotisch an, was uns andernorts in Cafés kredenzt wird. Ein Pülverchen mit heißem, nicht kochendem, Wasser übergossen. Serviert in kleinen weißen Porzellantassen. Zwei Stück Würfelzucker und Kondensmilch mit dabei. So schlicht und doch geschmacklos. Manchmal gibt es statt Milch noch ein anderes Pulver, Kaffeeweißer genannt. Bestehend aus verschiedensten Chemikalien, Farb- und Konservierungsstoffen und nach zehn Atomkriegen unverädert in Geschmack und Konsistenz. Dazu gerne mal eine Portion Fürst Pückler Diabetikereis mit einem Häubchen Crème Fin garniert. Wahrlich ein sehr selbstquälerischer und apokalyptischer Genuss.