Abschalten, Baby!

von Darren Grundorf & Stefan Berendes

erschienen als Titelartikel in Kommunikaze 15, November 2005

Was läuft eigentlich im Fernsehen? Nach dem Tod der deutschen Fernsehunterhaltung, der großen Showabende und bunten Galas irgendwann Mitte der Neunziger wurde der damalige Kommunikaze-Redaktionspraktikant Hans-Ullrich Jörges angewiesen, das TV-Gerät für alle Zeiten aus den Redaktionsräumen zu verbannen. Vor vier Wochen fand der Bundesnachrichtendienst es im Rahmen der vierteljährlichen Redaktionsdurchsuchung  wieder, auf dem Speicher neben einer Kiste mit Paulins Recherchen zu einem geplanten  Chemiewaffenanschlag auf den Heide-Park Soltau. Ein wenig verstaubt, die Zimmerantenne gerostet, aber immerhin mit Bild und Ton durfte es wieder in unser Großraum-Büro zurückkehren. Was der Kasten allerdings von sich gab, rief in der Redaktion Irritation bis Entsetzen, vor allem aber Müdigkeit hervor. Was ist mit dem deutschen Fernsehen in den letzten zehn Jahren passiert? Um uns einen Überblick zu verschaffen, hat Kommunikaze Feuilleton-Chefredakteur Darren Grundorf und Hauptstadtredaktionschef Stefan Berendes losgeschickt, um eine Woche lang verschiedene Fernsehformate zu besuchen. Sie trafen Alfred Biolek, Günther Jauch, Christoph Schlingensief und einmal - während der Rauchpause - die „Vollidioten vom Marienhof“ (Grundorf). Hier ist ihr Bericht.

Früher war die HÖRZU noch ein Faltblatt, heute fasst sie 116 Seiten, auf denen neben dem sonstigen Gedöns (Gesünder leben, Turnen gegen Rheuma, Butterkuchen selber machen) auch das Fernsehprogramm reingeschrieben ist. Kurz gesagt: Es ist viel zu viel. Deshalb hat die Redaktion einen bunten Querschnitt deutscher Fernsehunterhaltung für uns ausgewählt, wobei jeder natürlich seine Lieblingssendung auf die Liste setzen durfte: Celebrities Uncensored (A. Groß), Tiere suchen ein Zuhause (J. Paulin), Sophie – Braut wider  Willen (M. Weiner), Forsthaus Falkenau (D. Grundorf) &  Tigerentenclub (S. Berendes). Nach längeren Vorverhandlungen mit den betroffenen Sendeanstalten beginnt für uns eine spannende und erlebnisreiche Woche -- wo sonst, wenn nicht in der guten Stube des deutschen Fernsehens, im aktuellen Sportstudio?

ZDF  Samstag, 22:30, Aktuelles Sportstudio: Poschmanns Torwand (D. Grundorf)
Mit dem Helikopter geht es direkt von Osnabrück nach Mainz. Im Aktuellen Sportstudio darf ich natürlich nicht fehlen. Für Moderator Wolf-Dieter Poschmann geht wohl ein Traum in Erfüllung, mit mir eine tragische Figur des deutschen Fußballs im Studio zu haben, nennt man mich doch im Kreis Herford seit meiner aktiven Zeit das ewige Talent. Zahlreiche Verletzungen verwirkten meinen Aufstieg in den Profi-Fußball und damit wohl den Sprung in Klinsmanns Kader für die WM 2006. Poschmann, so muss ich feststellen, scheint dieses dann jedoch überhaupt nicht zu interessieren, und er stellt mich zu meiner völligen Überraschung (nur) als Redakteur der Zeitschrift Kommunikaze vor, wobei er den Namen sogar ablesen muss. Viel mehr Interesse zeigt er hingegen an den weiteren Gesprächspartnern, wobei doch gerade die Konstellation mit dem ewiggestrigen Günter Netzer, bei dem nicht nur die Frisur irgendwo in der Mitte der 70er stehen geblieben ist, und der Speerwerferin Steffie Nerius, die weder in ihrem Erscheinungsbild, noch in ihren Antworten und schon gar nicht mit ihrer Sportart besonders interessant, sondern eher eine audio-visuelle Katastrophe ist, nicht eben für herausragende Spannung bürgt.

Poschmann ist wohl anderer Meinung. Aufgeregt fragt er nach ihrer Gefühlswelt, als sie bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Helsinki die Bronzemedaille geholt hat. Günter Netzer erzählt auf die Frage, ob es in seiner Karriere für ihn einen ähnlichen berauschenden Augenblick gegeben habe, zum 500. Mal im deutschen Fernsehen, wie er sich im Pokalfinale gegen der 1.FC Köln selbst eingewechselt und dann das entscheidende  Tor gemacht hat. Um die Zuschauer aus ihrer Lethargie zu reißen, hake ich ein und beschreibe die Sekunden, als ich mit dem TV Elverdissen im Kreispokalhalbfinale gegen TuRa Löhne trotz angerissener Patella-Sehne mal das...doch unterbricht mich Poschmann schon wieder, um noch einmal auf Helsinki zurückzukommen. „Gab es einen Moment, wo sie wussten: Heute klappt es mit der Medaille?“, fragt er Nerius. „Nun, mach doch nicht so einen Terz um diese bekloppte Speerwurf-Weltmeisterschaft“, belle ich Poschmann entgegen. Steffie Nerius sei eine „ernstzunehmende, vorbildliche deutsche Sportlerin“, entgegnet er und lässt auch meinen Einwand „Sie wirft einen Stock von sich weg“ nicht gelten.

Ich habe mich disqualifiziert: Für den Rest des Gesprächs bleibe ich völlig außen vor. Poschmann („Hatten Sie an diesem Tag eine Vorahnung“, Nerius: „Nein.“) und Netzer („Bonhof passte mir den Ball zu, ich hatte mich kurz zuvor selbst eingewechselt, Schuss, Tor...“) ignorieren mich. Na wartet, denke ich mir, an der Torwand werde ich es euch zeigen. Netzer legt vor und trifft drei unten, drei oben und auch Steffie Nerius trifft viermal. „Na, werden sie sich einer Speerwerferin geschlagen geben, Herr Grundig?“, witzelt Poschmann. Das zeige ich euch gerade, denke ich, lege mir die Kugel hin und nehme Anlauf. Mein erster Schuss zerlegt die Torwand, der Nachschuss trifft Poschmann ins Gemächt. Nerius und Netzer schauen mich irritiert an, ich schaue Poschmann an, der in sich zusammengekrümmt vom Set getragen wird und etwas wie „Das wird Konsequenzen haben“ von sich gibt. „1:0, Porno-Poschmann!“, lache ich in mich hinein.

WDR, Dienstag, 17.50, Alfredissimo: Kerbelschmand am Arsch (D. Grundorf)
Kochen ist nicht gerade eine meiner Leidenschaften. Und schon gar nicht mit Alfred Biolek. Zu Beginn gibt es schon den ersten Disput: Ich habe Knorr Spaghetteria Pasta Funghi, eine Fertigmischung, mitgebracht. 500 ml Wasser zum Kochen bringen, den ganzen Pröddel reinkippen und umrühren. Biolek hingegen will einen Burgunderbraten mit Rotkohlköpfchen, gerösteten Servietenknödel, Spargelsalat mit Lachstartar an Schwarzbrot und eine Erbsensuppe mit Gemüsewürfeln und Kerbelschmand herrichten.

Natürlich müssen wir den Burgunderbraten machen. Da hilft auch mein Vorschlag nicht, wir könnten zur Variation Peperoni an die Funghi-Mischung schneiden. Biolek hat schnell meine Hilflosigkeit erkannt, will also persönlich Braten und Gemüse vorbereiten, ich soll mich um den Kerbelschmand kümmern. Mein Einwand, ich wüsste nicht einmal, was Kerbelschmand überhaupt ist, ignoriert der Chefkoch, indem er erst mal einen Wein anbietet: „Zu einem Burgunderbraten darf es ruhig mal ein Rheinhesse sein.“ Wie auch immer, ich nehme mit dem Weißwein vorlieb und überlasse den Schmand erst einmal sich selbst. Der Wein tut sein Bestes und macht Biloleks Geschwätz erträglicher. Ich stelle mich in den Hintergrund und sehe dem Treiben auf den Kochplatten zu.

Wie zufällig fällt Biolek ein, dass wir an den Spargelsalat Apfelsinenschnitze geben können, natürlich nur damit er wieder seinen Zestenreißer aus der Schublade holen kann, den er mal auf einer Reise nach Spanien aufgetrieben hat und der die Apfelsinen leicht und schön entschält. „Apfelsinen sind doch scheiße“, sage ich und schenke mir vom den Rheinhessen nach. Der Koch lässt sich nicht ablenken und reißt die Südfrüchte. „Als ich vor Jahren in Spanien war, hat mir nämlich ein sehr guter alter spanischer Busenfreund diesen Zestenreißer...“ erhebt Biolek die Stimme, um im folgenden zu rätseln, ob dieser Busenfreund aus Plaja del Sumbra oder aus La Coruna stammte. Ich beschäftige mich nun doch ein wenig mit dem Kerbelschmand und rühre gelangweilt im Topf, nicht ohne Biolek mitzuteilen, dass mir seine südeuropäischen Sexeskapaden ebenso egal sind wie Zestenreißer aus Santa Fé oder Kalla die Kacke Arschloch Arriba.

Biolek meistert die Situation gekonnt, indem er mich - während  er den Burgunderbraten anschneidet - fragt, wie weit ich mit dem Kerbelschmand sei. Ich sage ihm, dass er den Kerbelschmand gleich am Arsch hängen hat, wenn er noch einmal sein Maul aufmacht. Für den Rest der Sendung schweigen wir. Ich schenke mir den Rest vom Rheinhessen ein, während Biolek sein Knödelbratengedöns zu ansehnlichen Portionen auf zwei Tellern verteilt. Die Erbsensuppe schmeckt beschissen. Da hätte auch kein Kerbelschmand geholfen.

DSF, Mittwoch 0.15, Sexy Sport Clips: Die Freude an der Leibesertüchtigung (S. Berendes)
Nachdem Kollege Grundorf beim arrivierten Sportfernsehen nichts als verbrannte Erde und zerspante Torwände zurückgelassen hat, muss ich mich glücklich schätzen, vom DSF immerhin noch zur Aufnahme der nächsten Folge von Sexy Sport Clips eingeladen zu werden. Der Aufnahmeleiter erklärt mir augenzwinkernd, dass bei diesem Format die Freude an der körperlichen Bewegung und die Ästhetik des menschlichen Körpers im Vodergrund stehen.

Konkret sieht das dann so aus, dass sich in der Mitte eines Eishockyfeldes irgendeine Janine oder Mandy ihrer ohnehin nicht sehr reichlichen Garderobe entledigt, während ich auf Schlittschuhen immer in der Runde drumherum fahren muss, wahrscheinlich um den im Wappen geführten Sport angemessen zu repräsentieren. Aber wenn Grundorf sich anderswo wie die wilde Sau aufführt, muss man eben nehmen, was übrigbleibt.

„Wenigstens nichts mit Schwimmen“, denke ich mir noch und gleite los. Drei Runden lang geht alles gut, dann nehme ich die Kurve zu scharf, sodass sich Mandys oder Janines lasziv hingeworfener Seidenstrumpf um meine linke Kufe wickelt, und ich aufgrund meines ungünstig gelagerten Körperschwerpunktes wild mit den Armen rudernd in die Zuschauertribüne rausche, wo mein geschundener Leib dann regungslos liegen bleibt. Nach dem Erwachen aus der Ohnmacht werfe ich von meinem Krankenlager aus mit großem Interesse einen Blick auf den Rohschnitt der Episode und stelle erleichtert fest, dass die Darbietung - mittlerweile unterlegt mit einem beschwingten Gassenhauer der Leather & Lace Glamrocker Twisted Sister - in der Tat über eine gewisse visuelle Poesie verfügt.

Beim überwiegend einhändig agierenden Stammpublikum der Sexy Sport Clips fällt mein Auftritt indessen schlichtweg durch, sodass Folge Nr. 134 bis auf Weiteres ins MAZ-Archiv wandert, und das DSF stattdessen eine Aufzeichnung vom Pokalfinale 1975, 1. FC Köln gegen Borussia Mönchengladbach, sendet,  bei dem sich Günter Netzer seinerzeit selbst eingewechselt und dann das entscheidende Tor geschossen hat.

SAT. 1, Donnerstag 15:00, Richterin Barbara Salesch: Was wirklich am 11. September geschah (D. Grundorf)
Ich darf mitspielen im Gerichtssaal. Geplant war ein Einsatz als Zeuge in einem Dieb-stahl-Prozess, aus aktuellem Anlass nehme aber ich auf der Anklagebank Platz. Mein Gegenüber klagt auf Körperverletzung, Verdienstausfall und Sachbeschädigung einer Torwand. Poschmann fordert Gerechtigkeit. Die Staatsanwaltschaft fordert 3000 Euro Strafe und den Ersatz der Torwand.

Der Zeuge der Anklage sticht aber nicht. Günter Netzer kann sich nur noch schemenhaft an den Abend erinnern, ist sich aber sicher, dass er erzählt hat, wie er sich einmal im Pokalfinale 1975 selbst eingewechselt und das entscheidende Tor gemacht hat. Ich verteidige mich selbst. Die Fakten sprechen gegen mich. Es soll sogar einen Videobeweis geben. Auch meine Ablenkungs-Strategie, Poschmann mit den Terror-Anschlägen vom 11. September in Verbindung zu bringen, geht fehl. Barbara Salesch hat kein Einsehen: 5000 Euro Strafe. Noch kein Grund zur Panik, immerhin sind alle großen Zeitschriften schon mal auf Schadenersatz verklagt worden...

ZDF,  Donnerstag, 23.00 Uhr, J. B. Kerner: Stolz & Vorurteil (S. Berendes)
Grundorfs Niederlage vor Gericht stürzt die Redaktion in eine Krise, denn unsere Rechtsabteilung bei der Sozietät Möller, Geerds & Rehse rät dringend von einer Berufungsverhandlung ab. Auch mein Versuch, die fälligen 5000 Euro nächtens beim 9-live Buchstabenrätsel einzuspielen, bleiben erfolglos: Ich erwische einfach nicht die richtige Telefonleitung, auch wenn ich das Lösungswort „grmblpfrzt“ sofort erkannt habe. Missmutig begebe ich mich also zu meinem letzten TV-Termin.

Da der Name Kommunikaze mittlerweile bei den Sendeanstalten für heftige Abstoßungsreaktionen sorgt, muss ich meinen Stolz herunterschlucken und mich Johannes Baptist Kerner an die Seite setzen. Die anderen Gäste sind Reinhold Beckmann (der mal wieder versichern will, dass es überhaupt keinen Grund gibt, anzunehmen, Kerner und er seien Konkurrenten oder gar ein und dieselbe Person) sowie zu meinem Entsetzen Kalle Pohl,  der eine Tournee mit seinem unsäglichen Minimalkonsenshumor bewerben will.

Um dem entschieden gegenüberzutreten, spreche ich sehr geistreich über den Zusammenhang zwischen Baudelaires Flaneur der Menge und der Dialektik der Aufklärung. Leider versaut Kalle Pohl die Pointe, und sabbelt einen Witz dazwischen, in dem er zum 900. Mal Maik Krügers Nase mit der Größe seines Geschlechtsteils in Verbindung bringt. Alle lachen. Um einen Rest Würde zu retten, zische ich dem besonders laut prustenden Kerner zu, ich sei übrigens auch sehr viel besser drauf, seitdem mir meine Frau Geflügelwurst aufs Pausenbrot legt. Der Rest der Sendung verläuft dann eher unerfreulich.

Am nächsten Morgen dann ein Anruf von Christoph Schlingensief: Er hat meinen Auftritt verfolgt und fragt an, ob ich für sein nächstes „Projekt“ zur Verfügung stünde - gegen Bezahlung, versteht sich. Grundorfs Schulden wollen getilgt sein, und so sage ich nach einer spontanen Redaktionskonferenz zu - unter der Bedingung, dass ich nicht als Hitler verkleidet mit einem riesigen Stofftier auf den Rücken geschnallt vor der deutschen Oper an einer Laterne hängen und vorbeikommende Passanten mit Katzenscheiße bewerfen muss.
Schlingensiefs Absage kommt am frühen Nachmittag. 

Freitag, 20.15, Wer wird Millionär? Im Notfall: Publikum fragen! (D. Grundorf)
Meine Recherchen hatten ergeben, dass wöchentlich mehrere Millionen Zuschauer der Quiz-Sendung mit Günther Jauch beiwohnen. An diesem Abend staunen 10,3 Millionen Zuschauern vor ihren Fernsehern, wie ich Goethes Briefwechsel mit Humboldt, Müller, Zelter und Eckermann in 4,3 Sekunden in die zeitlich richtige Reihenfolge bringe. Kein Unding, dennoch ist auch Günther Jauch beeindruckt. Ich nehme derweil auf einem der begehrtesten Stühle Deutschlands Platz.

Bevor wir starten, der übliche Small-Talk (Alter, Herkunft, Studium, Kommunikaze, Veit-Larmann-Interview) und natürlich die Frage, was ich einer Million Euro machen würde. Als erstes fallen mir da das BaföG-Amt Osnabrück und das Debitorenmanagement-Team der Sparkasse Herford ein, die sicherlich zu hause gebannt mitfiebern, aber das geht Günter Jauch nichts an.

Stattdessen spiele ich das Jauch-Geklimper mit (Haus bauen, einen Teil spenden, Forschungsreise nach Samoa, Torwand etc.). Guter Dinge und mit großem Selbstvertrauen starte ich also in die Quiz-Runde. Günter Jauch stellt Die 50-Euro-Frage: „Aus welcher Pflanzengattung wird Kerbelschmand gewonnen?“ Er hat noch nicht ausgesprochen, da umklammere ich schon seinen Kopf und drücke sein Gesicht kräftig in das Display seines Computers.  „Sollen wir die Zuschauer fragen?“, nuschelt Jauch.  
"Nein, Günter, nein."

 





Und jetzt: Das Fernsehprogramm für die nächsten 2000 Jahre.