erschienen im Rahmen des Titelartikels in Kommunikaze 12, Dezember 2004
Ich hatte schon auf verschiedenste Weise versucht, mich Jutta Stallmann zu nähern oder ihr zu imponieren. Jedoch zeigte sie sich von meinem komplett beklebten Panini-Sammelalbum der Fussball-Weltmeisterschaft 1990 (nur der italienische Ersatztorhüter fehlte) ebenso wenig beeindruckt, wie von meinem Versuch, mir durch einen riskanten Aufschwung-Unterschwung mit Rolle vorwärts-Absprung-Stand rechts am Stufenbarren bei den Bundesjugendspielen doch noch die begehrte Ehrenurkunde mit der Unterschrift von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zu sichern. Vielleicht lag es am italienischen Ersatztorhüter, vielleicht am missglückten Unterschwung und der anschließenden Rolle seitwärts-Fall vom Stufenbarren-Armbruch links, dass Jutta Stallmann mich weiterhin ignorierte. Zu meiner Zufriedenheit hatten aber die anderen Jungen ebenso wenig Glück bei Jutta Stallmann wie ich selbst, und ihr Imponiergehabe beim Verprügeln der Parallelklasse konnte sie ebenso wenig begeistern wie meine Versuche am Stufenbarren. Jutta war anders.
Es kam aber der Tag an dem Jutta Stallmann im Sachunterricht bei Frau Wöller-Schrabenbrecht ein Referat über Pferde hielt. Natürlich klebten alle Jungen unserer Klasse an ihren Lippen, als sie über das Füttern und das Reiten sprach und von ihrem Pferd „Lotus“ erzählte. Sie hatte ein Foto mitgebracht, das sie und Lotus zeigte. Lotus: ein Pferd, ein braunes, mit schönen, großen, schwarzen Augen. Eine dunkle, majestätische Mähne legte sich über den fürstlich herausgeputzten Pferdekopf, und der kräftige braune Unterbau trug Jutta, Jutta Stallmann, die in ihrem Dressurkostüm graziös die Zügel hielt, während der Wind durch ihre goldenen Locken führ und ihr den Nacken kitzelte, was sie zu einem leisem Lächeln bewegte, dieweil Lotus gedankenverloren, vielleicht verliebt, über die weite Wiese blickte, weil er wusste, welche Pracht, welche Schönheit, da die Beine über seinen Rücken legte.
Ich wollte auch ein Pferd. Ein Pferd, einen Hengst, mit einem ebenso schönen Namen, vielleicht „Nabucco“ oder „Abaluga“, mit einem kräftigen Körper, ein schnelles Pferd, eines das springen kann. In meinen Tagträumen malte ich mir aus, wie Jutta Stallmann und ich zusammen daherritten. Zunächst nur, wie wir über die Felder unseres Dorfes ritten, später, wie ich sie mit Nabucco aus einem Hinterhalt befreie, wie ich auf Abaluga daherreite, um Lotus aus den Händen einer fiesen Pferdewurstmafia zu befreien, ich träumte, wie sie und ich eine Postkutsche überfallen und einem Haufen Banditen davonreiten und ich träumte, wie ich sie wie ein Siegfried aus den Klauen eines Drachen befreie, sie in meinen Armen auf Nabatoccu oder Abaschucco vor den Sachsen noch gerade in Sicherheit bringen kann, ehe mich ihr König in Gefangenschaft nimmt, und ich Harfe schlagend im Schlangenturm den Heldentod sterbe, während Jutta Stallmann am Hofe bittere Tränen vergießt. Allerdings kauften mir meine Eltern nie ein Pferd, und so ingorierte mich Jutta Stallmann auch weiterhin.
Heute sieht Jutta Stallmann selber aus wie ein Pferd, und das einzige, was auf dem letzten Klassentreffen noch an ihren Lippen klebte, war eine Herpesentzündung im rechten Mundwinkel. Pah! Jutta Stallmann.
- Startseite
- Wir & Ihr
- Printmagazin
- Onlinemagazin
- Kommunikaze live
- Onlineshop
- Reklame
- Gäste
- Links
- Kontakt/Impressum