Wandertag

von Stephanie Schulze

erschienen im Rahmen des Titelartikels in Kommunikaze 3, April 2003

Zu den bedeutendsten Erlebnissen der Schulzeit gehörte für mich der Wandertag. In der frühen Erziehungsphase noch im eigentlichen Wortsinn als Grenzbelastungsprobe für einen mauligen Haufen Halbwüchsiger gedacht, entwickelte, verbreiterte und dehnte sich der Begriff im Laufe der Schulzeit, bis vom „Wandertag“ nur noch „-tag“ dem ursprünglichen Konzept entsprach.

Da in der Erinnerung alles schöner ist als in der Realität, beunruhigt es mich heute nicht mehr, dass ich in der 2. Klasse einem Mitschüler 2 DM (kurz nach der Währungsreform, wertvolles Westgeld!) für einen Kaugummi und einen Bonbon bezahlt habe. Kapitalistischer Abzocker! Die Transaktion musste auf Elternebene wieder rückgängig gemacht werden. Ich war wohl etwas verzweifelt gewesen. Status machte sich in jenen Tagen am Inhalt des Stullenbeutels (z. dt. Brottasche) fest, der damals noch klassischer Weise vor dem Bauch baumelte. Die schöne, alte, naive Zeit!

In einem Anfall von Renaissance dachte ich mir, ich packe die Weltfriedensaktion vom 15. Februar diesen Jahres beim Schopfe und mache mal wieder einen Wandertag. Wann kommt man schon mal dazu, so gemütlich auf der Straße herumzuschlendern? Bitte umfahren Sie das Gebiet weiträumig, das heißt, bleiben Sie lieber gleich zu Hause. Keine Autos, nur ab und zu ein Plakat im Nacken oder einen stahlbekappten Schuh im Hacken - das reimt sich, und was sich reimt, ist gut. Dieser Spruch stammt von Pumuckl und kann somit zum Konglomerat der frühen Kulturerfahrung „Wandertag“ gerechnet werden.
Der gemütliche Spaziergang vom Breitscheidplatz  zur Straße des 17. Juni, wo man sich im Anschluss an die Demo eine Abendbegleitung kaufen kann, hat nicht nur eine positive Auswirkung auf die Gesundheit der Teilnehmenden. Auch das geographische Verständnis für Zusammenhänge entwickelt sich. Otto Normal wird nicht lebensmüde genug sein, um sich als Kraftwagenfahrer dem Berliner Straßenjungle zu nähern. Die S und U Bahnen vermitteln allerdings ein eher lückenhaftes Bild. Das Vakuum von Station zu Station kann eigentlich nur ein kollektiver Wandertag wirklich füllen.

Das richtige Demofeeling, wie es noch aus der Zeit der ersten Wandertage durch meine Erinnerung schwimmt, blieb jedoch aus. Damals, es war der 1. Mai oder ein anderer Feiertag der Arbeiter und Bauern, der mit einer Pflichtdemonstration sozialistischer Stärke einherging, waren alle Menschen größer als ich und bildeten eine Art beweglichen Lochtunnel, in dem es sich bestens umliegende Hosen, Röcke und Schuhe begutachten ließ.

Heute lohnt es sich trotz des eingebüßten Lochtunnels wieder, am 1. Mai für die Rechte der Arbeiter zu demonstrieren. Ein paar Fetzen Ballistik aus dem Physikunterricht können helfen, sich gekonnt aus der Flugbahn von Steinen und Gummigeschossen zu halten. Unter Umständen ist eine Dusche inklusive. Aber das ist ein anderes Kapitel...

An dem Samstag im Februar, der einer Präventivkriegsprävention gewidmet war, ging es eher beschaulich zu. Man traf sich mit 499.999 anderen zum Wandertag durch die Hauptstadt. Der Haufen war noch nicht mal spürbar maulig nach mehreren Stunden Kälte. Beim Entlangtrotten konnte man der Leichtigkeit des Seins frönen oder der Schwere der Gedanken nachhängen. Und auch die kapitalistischen Abzocker am Kundgebungsort kamen mehr als weniger auf ihre Kosten: 2,50 Euro für eine Bockwurst mit Brötchen. Hurra! Es lebe der Stullenbeutel!