Kickern! Faszination Tischfußball

von Darren Grundorf

erschienen als Titelartikel in Kommunikaze 4, Mai 2003

Wohl kaum ein anderer Sport erhitzt das studentische Gemüt so sehr wie das Tischfußballspiel: Kickern, das heißt laue Sommerabende und schweißtreibender Hochleistungssport. Äußerste Disziplin und die große Freiheit zugleich. Wer von uns verspürt nicht, wann immer er in der Mensa die ekstatischen Rufe der Kickerspieler durch das Foyer driften hört, tief in sich den Ruf der Wildnis?

Ein Grund für die Kommunikaze, dem Phänomen Tischfußball einmal den angemessenen Platz zu widmen.
Viel Spaß!

Einmal, es war in der Mensa, da standen wir am Tischfußballtisch, und es war gar nicht so wie sonst. Also, man muss sagen, dass irgend    einer, bevor wir Tischfußball spielen, immer schreit: „Zu Null ist ne Kiste!“. Meistens ist das Michael, der so etwas schreit.

Zu Null ist also eine Kiste. Soll heißen: Wir stehen immer zu viert am Tischfussballtisch und spielen zwei gegen zwei. Zwei auf jeder Seite, einer hinten, einer vorne, und es gibt elf Bälle. Gelingt es also einer Mannschaft, alle elf Bälle in das generische Tor zu schießen, hat diese nicht nur das Spiel, sondern auch noch eine Kiste gewonnen. Keine Kiste Wasser oder Fanta, sondern eine Kiste Bier. Immer wenn Michael und ich dort spielen, geht es nur darum, 11:0 zu gewinnen. Nicht nur wegen der Kiste, sondern auch, weil es so schwierig ist.

Das Grün der Tischfußballtische in der Mensa ist so schnell, die Stangen lassen sich so leicht bewegen, und der kleine rote Ball erreicht Geschwindigkeiten...Junge, Junge. Da möchte man nicht an einer dieser Stangen befestigt sein. Wenn ich an einer dieser Stangen befestigt wäre, dann wäre ich am liebsten der rechte Verteidiger in der blauen Mannschaften des Tisches, wo dem roten Spieler im rechten Mittelfeld der Kopf fehlt. Zum einen weil ich es lustig fände, dass in der gegnerischen Mannschaft einer ohne Kopf spielt, zum anderen weil ich als der rechte Verteidiger die schönsten Tore erziele. Ich lass mir vom linken Verteidiger die Kugel zuspielen, lege sie ein wenig nach links und haue dann dermaßen einen dahinter, dass sie im gegnerischen Gehäuse einschlägt, noch bevor einer der 21 Spieler dazwischen sich irgendwie bewegen oder so etwas wie: „Nicht schießen“ rufen könnte.

Wer hat eigentlich dem Mann im rechten Mittelfeld den Kopf abgeschossen? Oder ist der Kopf einfach so abgefallen? Und wo ist der Kopf hin. Hat ihn der Mann aus dem halbrechten Mittelfeld zum 12:0 in den Winkel gedonnert? Man weiß es nicht. Aber, wie gesagt, an diesem Tag war alles gar nicht so wie sonst. Michael und ich spielten schon seit fünf Monaten zusammen, ich hinten und er vorne. Wir hatten schon herbe Niederlagen eingesteckt, ohne jedoch zu Null zu verlieren. Aber wir hatten auch  große Siege gefeiert. Einmal haben wir aus einem 0:5 noch ein 6:5 gemacht, doch zu Null hatte wir noch nie gewonnen. Wie auch? Einen Fehler macht man immer, oder der Ball klatscht an die Bande, wird abgefälscht, und ich kriege den Torwart nicht mehr schnell genug in die Ecke, und das Gegentor ist da. Wir hatten schon einmal 9:0 geführt, und genau dann war das eben beschrieben Szenario eingetreten, und das gegen zwei Studenten, die spielten wie nichts Gutes und auch so aussahen. Aber nicht an diesem Tag, am 9. Januar 2003.

Wir waren durch mich 1:0 in Führung gegangen und Michael hatte den zweiten Treffer hinterhergelegt. Normalerweise folgt dem 1:0 immer der Ausgleich, und dann hat keiner mehr Lust, weil die Kiste ja weg und sowieso alles Scheiße ist. Unsere Gegner an diesem Donnerstag, Jan und Kolja, hatten nun mittlerweile schon den dritten und vierten Gegentreffer durch Michael hinnehmen müssen, es versprach ein schneller Sieg zu werden, und ich konnte nebenbei sogar einen Schluck Kaffee trinken. Ich machte dann die Treffer zum 5:0 und 6:0, wir hatten gewonnen und Michael scherzte, welches Bier wir nehmen sollten. Kolja spielte vorne, und ihm war derweil der Schweiß auf die Stirn getreten, und Jan döste so vor sich hin, weil Jan immer erst kurz vor Schluss merkt, dass seine Mannschaft noch kein Tor erzielt hat und dann so was sagt wie: „Haben wir noch kein Tor erzielt?“, und wir dann so etwas sagen wie: „Nein“, und Jan dann doch noch der Schweiß auf die Stirn tritt.

Das 7:0, Michael, das 8:0, ich, und auf einmal wussten wir, da geht doch was. Drei Tore noch, und plötzlich trafen Kolja und Jan nicht schlecht, doch der Torwart holte alles aus den Ecken. Michael erhöhte auf 9:0, nachdem er den Ball mit dem linken Stürmer auf den Mittelstürmer gelegt hatte und die rote Flitzekugel in das Tor gehämmert hatte und dann machte Michael das 10:0. Da war sie. Da war zum ersten mal die Chance, den Mythos zu brechen und das Unmögliche möglich zu machen und so. Ein Tor noch. Und der Ball rollt über das Grün, und alle schießen, und es dauert ewig, und Kolja trifft den Innenpfosten, kein Witz, der Ball springt an den Innenpfosten, ich fange ihn mit dem Torwart ein und schlage ihn wieder nach vorne, und Michael macht ihn nicht rein, und die Kugel schlägt an die Banden und an die Spieler und dann ist sie wieder da und rollt zum rechten Verteidiger, zu meinem rechten Verteidiger hinüber, und ich erwische ihn nicht richtig und schieße voll scheiße, so dass ich Michaels rechten Stürmer treffe und der Ball über die rechte Ecke, aus spitzem Winkel, wie in Zeitlupe auf das gegnerische Tor zurollt, und keiner eingreifen kann, weil keiner an den Ball kommt, und es ist totenstill am Tisch, und alle halten die Luft an, ich habe einen Puls von 250, Michael ist wie erstarrt, Kolja tropft eine Schweißperle von der Nasenspitze, und Jan fragt so etwas wie: „Haben wir noch kein Tor erzielt?“, und ich sage noch schnell: „Nein“, und dann ist die Kugel fast schon am Tor vorbeigerollt, als sie doch noch hineinfällt. Es ist aus, Michael und ich schreien vor Freude los und fallen uns in die Arme. Es ist vollbracht, welch ein Triumph, welch ein Sieg, welch ein Tag!

Ja, so war das. Wir sprechen noch heute Kolja und Jan ständig darauf an. Hauptsächlich, weil wir die Kiste noch nicht bekommen haben. Doch die Tage des Ruhm sind vergangen, der Glanz des Sieges ist längst verblasst. Vor zwei Wochen haben wir gegen Maik und Bodo gespielt und 0:11 verloren. Was ganz gut war, war, dass Michael nicht „Zu Null ist ne Kiste!“ geschrien hatte, und das Maik und Bodo diese Regel wohl auch nicht kannten und es ja eh nur ein Tischfußballspiel war und nicht mehr.